Mittwoch, 24. Februar 2016

Rezension. Joachim Bauer: Schmerzgrenze. Vom Urspung alltäglicher und globaler Gewalt

Am 15.08.2011 hatte ich das genannte Buch von Joachim Bauer bereits besprochen. Meinen damaligen Beitrag lösche ich hiermit und ersetze ihn durch eine aktualisierte Fassung. Grund dafür ist auch, dass meine etwas überarbeitete Buchbesprechung im aktuellen Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 16 veröffentlicht wurde. Nebenbei bemerkt bin ich seit Kurzem auch Mitglied der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie e.V. (GPPP), was letztlich erst einmal nicht mehr bedeutet, als dass ich den Mitgliedsbeitrag bezahle :-).  Mal sehen, was die Zukunft bringt.

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Rezension
Joachim Bauer: Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Karl Lessing Verlag, München 2011, 285 S., Preis 18,95 €

Zunächst einmal fand ich es schön, dass der Autor die immer noch weit verbreitete Grundannahme, der Mensch verfüge über einen natürlichen Aggressionstrieb (einer natürlichen „Lust an der Gewalt“), als ein durch heutige Forschungen belegtes unhaltbares Konzept beschreibt. Unser Gehirn sei vielmehr auf Kooperation eingestellt und auf das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit. Aggressionen gar Gewalt sind – so die Hirnforschung – zunächst einmal keine zentralen menschlichen Handlungsoptionen. Aggressionen sind allerdings etwas Lebenswichtiges. Sie versetzen Lebewesen in die Lage, Schmerz abzuwehren und ihre körperliche Unversehrtheit zu bewahren. Das ist ihre natürliche Aufgabe. Wer sich der Schmerzgrenze eines Lebewesens nähert oder diese überschreitet, wird Aggression ernten.

Das Zentrale an Bauers Buch wird durch folgende zwei Zitate deutlich: „Die Schmerzgrenze wird »aus Sicht des Gehirns« keineswegs nur dann überschritten, wenn Menschen physischer, also körperlicher Schmerz zugefügt wird. Die Schmerzzentren des Gehirns reagieren auch dann, wenn Menschen sozial ausgegrenzt oder gedemütigt werden.“ (S. 58+59)   und
Die Beobachtung, dass soziale Zurückweisung, Ausgrenzung und Verachtung »aus Sicht des Gehirns« wie körperlicher Schmerz wahrgenommen werden, bedeutet einen Durchbruch im Verständnis der menschlichen Aggression. Mit einem Male wird verständlich, warum nicht nur körperlicher Schmerz, sondern auch Ausgrenzung und soziale Demütigungen potente Reize darstellen, die den neurobiologischen Aggressionsapparat aktivieren und Gewalt hervorrufen können.“ (S. 59)

Erfolgreich kommunizierte Aggression ist konstruktiv, so Bauer. Sprich die Menschen, die Verachtung und Ausgrenzung erfahren, müssen dies ausdrücken können und bestenfalls auch eine konstruktive Reaktion bekommen. Aggression, die ihre kommunikative Funktion verloren hat, ist destruktiv. Wichtig fand ich dabei die folgende beiläufige Information im Buch: „Hemmungen und andere Schwierigkeiten, legitime Aggression zu kommunizieren, entstehen vor allem dann, wenn in den Jahren der Kindheit keine sicheren Bindungen zu Bezugspersonen vorhanden waren oder wenn Gewalt erlebt wurde.“ (S. 64) Bauer geht an dieser Stelle, wie auch an anderen Stellen des Buches (siehe unten) immer mal wieder auf die Kindheit ein. Trotzdem hat das Buch die Tendenz, eher soziale Ausgrenzung anzukreiden. Der Autor schreibt: „Armut bedeutet – vor allem für diejenigen, die ihr nicht durch eigenes Verschulden ausgeliefert sind – nicht nur existenzielle Not, sondern ist vor allem eine Ausgrenzungserfahrung. Aus diesem Grunde ist sie auch ein besonders ergiebiger Nährboden der Gewalt.“ (S. 66)  und „Gerechtigkeit ist für eine Gesellschaft die beste Gewaltprävention. (…) Zu den wichtigsten Reizen für Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen auf der internationalen Bühne zählen Armut und der Kampf um knappe Ressourcen.“ (S. 198+199)

Die zentrale These von Bauer ist, dass sich die aus erlittenen Demütigungen und Ausgrenzung erzeugte Aggression oftmals nicht direkt verbal ausdrückt, sondern sich in ein inneres „Aggressionsgedächtnis“ verschiebt (S. 76-79). Gewalt richtet sich dann nicht direkt an die Personen oder Institutionen, die ausgegrenzt haben, sondern an unbeteiligte Dritte. Bauer will so auch brutalste Angriffe und auch Amokläufe erklären. Bzgl. dieses Phänomens geht er auch auf Kindheitserfahrungen ein. „Wer aufgrund früherer, meist in den Kinderjahren erlittener Verletzungen keine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen fühlen kann, hat als Erwachsener bei schwierigen Alltagssituationen schneller als andere das Gefühl, abgelehnt oder verachtet zu werden. Er (oder sie) wird häufiger als andere Menschen eine »gefühlte Zurückweisung« erleben. Entsprechend schneller ist bei solchen Personen die Schmerzgrenze erreicht, und entsprechend steigt das Risiko einer aggressiven Reaktion.“ (S. 70) und „Vernachlässigte oder an Gewalterfahrungen gewöhnte Kinder erleben die Welt als einen gefährlichen Ort. Sie interpretieren, wie Studien zeigen, ihre Umwelt – insbesondere die ihnen begegnenden Menschen - auch dann eher als feindselig, wenn tatsächlich keine Gefahr zu erwarten wäre. Da aggressive Erfahrungen im Gehirn ein Wahrnehmungsschema hinterlassen, gehen von Gewalt betroffene Kinder davon aus, dass auch ihnen unbekannte Menschen feindselige Absichten haben. Die Folge ist eine eingeengte, veränderte Wahrnehmung der Welt.„ (S 83) und „Kinder und Jugendliche, die keine erzieherische Zuwendung erhalten, die vernachlässigt oder mit Gewalt traumatisiert wurden, bleiben hinter dem Entwicklungszeitplan ihres Gehirns in gefährlicher Weise zurück und entwickeln bleibende Hirnreifungsstörungen, die vor allem den Präfrontalen Cortex betreffen und derart schwerwiegend sein können, dass auch spätere Therapien oder andere Korrekturversuche nicht mehr greifen.“ (S. 109)

Der Autor sieht deutlich, wie wichtig Geborgenheit, Anerkennung und Liebe für Kinder ist. Wo diese fehlt, bleiben quasi gespeicherte Aggressionen zurück , die sich zeitlich verschoben destruktiv ausdrücken können. Trotz dieser seiner Erkenntnis nimmt diese gewichtige Grundlage nicht wirklich viel Raum in seinem Buch ein, was verwundert. Armut und soziale Ausgrenzung stehen im Vordergrund. Diesem Themengebiet hat er sogar gleich ein ganzes Kapitel gewidmet: „4. Armut, Ungleichheit und Gewalt“ (S.113-124).
Der Autor geht z.B. auf die Korrelation zwischen Armut bzw. großen Einkommensunterschieden innerhalb von Gesellschaften und Mord-/Todschlagraten ein, um seine These von der Schmerzgrenze zu untermauern. (S. 114-116) Kolumbien belegt einen Spitzenrang, was Mordraten angeht. Die Erniedrigung durch Armut würde das Aggressionspotential steigern, da die psychische Schmerzgrenze überschritten würde. Bauer fragt sich nicht, wie denn eigentlich die dominante Kindererziehungspraxis in Kolumbien aussieht. Der Bericht „Familiäre Gewalt und Kindesmissbrauch in Kolumbien“ (Karnofsky 2005) zeigt auf, dass die Ursachen der Gewalt in den gewaltvollen Kindheiten vor Ort liegen. Ich würde dabei sogar noch weitergehen und die Fragen stellen:

- In wie weit bewirkt eine weite Verbreitung von (schwerer) Gewalt gegen Kinder innerhalb einer Gesellschaft wie Kolumbien, dass sich diese Gesellschaft auch sozial, politisch und ökonomisch nicht wirklich weiterentwickelt und zurück bleibt?

- In wie weit bedingen die gewaltvollen Kindheiten in Kolumbien, dass entsprechend geprägte Menschen, die an Macht kommen, diese nutzen, um andere zu unterdrücken und auszugrenzen und gleichzeitig die Unterdrückten, die einst als Kind gequälten, sich weitgehend in die Opferrolle einfügen, weil sie noch nie anderes erlebt haben?

Aktuell hat auch die weltweit bisher größte Studie (UNICEF 2014) zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder festgehalten, dass in Entwicklungsregionen wie Afrika oder im Nahen Osten das weltweit verglichen höchste Ausmaß von elterlicher Gewalt, dabei auch besonders schwere Formen, gefunden wird. Die Republik Jemen – beispielsweise - ist eines der ärmsten Länder der Welt und das ärmste Land im Nahen Osten. Laut vorgenannter Studie ist es weltweit auf dem ersten Platz bzgl. elterlicher Gewalt gegen Kinder: Innerhalb von 4 Wochen erleben die dortigen Kinder zwischen 2 und 14 Jahren körperliche und/oder psychische Gewalt zu 95 %, nur körperliche Gewalt zu 86 % , besonders schwere körperliche Gewalt zu ca. 43 % und nur psychische Gewalt zu 92 %. (UNICEF 2014, S. 97 + 199) Solche und ähnliche Daten aus älteren Studien, die Bauer hätte verwenden können, fehlen in dem Buch „Schmerzgrenze“.
In seinen Schlussfolgerungen schreibt der Joachim Bauer noch einen wichtigen Satz: „Viele Familien sind, ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne dies zu wollen, Brutstätten für eine spätere Gewaltbereitschaft der in ihnen lebenden Kinder. Kinder, die keine zuverlässigen Bindungen zu ihren Bezugspersonen haben, um die sich kaum jemand kümmert und für die niemand Zeit hat, leben im Zustand der Ausgrenzung.“ (S. 194) Trotz dieser Erkenntnis widmet der Autor kein eigenes Kapitel der Kindheit.

Eine enorm wichtige Frage hat sich Joachim Bauer nicht gestellt: Wie gehen Menschen, die als Kind Geborgenheit und Liebe durch mindestens eine elterliche Bezugsperson erlebt haben und bestenfalls keine elterliche Gewalt erlebt haben, später mit erlebter sozialer Ausgrenzung um? Wird die Schmerzgrenze dieser Menschen auch soweit gereizt werden können, dass sie darauf mit Gewalt, Folter, Vergewaltigungen, Krieg und Terror reagieren?

Ich glaube, dass Menschen, die als Kind Geborgenheit und Liebe erfahren haben, nicht gewalttätig auf spätere Konflikte und Ausgrenzungen reagieren werden. Wenn ich damit Recht habe, dann ist Armut und soziale Ausgrenzung nicht der zentrale Punkt, wenn es um die Ursachen von Gewalt geht. Ich glaube allerdings auch, dass Menschen, die als Kind Gewalt, Demütigungen und Missbrauch erlebt haben, wenn sie in ihrem späteren Leben erneute Demütigungen und soziale Ausgrenzungen erleben, ganz besonders reizbar sind und mit enormer Wut und Hass auf diese Dinge reagieren, die sie ja auch schon früh als Kinder erlebten. Sie erleben dann quasi einen Trigger. Kleinste Verletzungen im Alltag können dann zum Auslöser für brutalste Gewalt und Angriffe oder auch eigene Selbstverletzungen werden. Etwas ähnlich hat Bauer es vielleicht auch gesehen. Schade nur, dass er nicht mit aller Deutlichkeit den Ausgangspunkt destruktive Kindheit benannt hat. Entsprechend wurde sein Buch dann auch besprochen. In zwei Beispielen befassen sich die Autoren nicht (Lange, Michael 18.04.2011) oder so gut wie nicht (Lenzen, Manuela 13.04.2011) mit der Kindheit, sondern greifen rein Bauers Konzept von der überschrittenen Schmerzgrenze auf Grund sozialer Ausgrenzungen auf.

Schließlich bleibt mir noch anzumerken, dass Gewalt und Terror in der Geschichte oftmals von Menschen ausging, die alles andere als unterprivilegiert, ausgegrenzt oder arm waren. Der Terrorchef Osama Bin Laden stammte aus einer wohlhabenden saudischen Unternehmerfamilie. Diktatoren im Nahen Osten verfügen oft über ein Milliardenvermögen.  Präsidentenfamilie Bush aus den USA war reich, ebenso wie all die kriegerischen Könige und Kaiser in der Geschichte die Reichsten der Reichen, die Mächtigsten der Mächtigen waren. Das Konzept „Schmerzgrenze überschritten auf Grund soziale Ausgrenzung“ greift zu kurz, wenn es um die ursächliche Erklärung von Gewalt geht.
Trotzdem halte ich das Buch für lesenswert und gedanklich anregend. Es stützt zudem in manchen Punkten psychohistorische Annahmen. Letztlich sind es doch insbesondere Kinder, denen es fast unmöglich ist, ihren Schmerz über erlittene elterliche Gewalt und Demütigungen auszudrücken, weil sie existenziell von ihren Eltern abhängig sind. Und das hat Folgen, auch politisch. Joachim Bauer hat den Zusammenhang von destruktiven Kindheitserlebnissen und Gewaltverhalten wissenschaftlich gut belegt, aber, das bleibt meine Grundkritik, nicht angemessen gewichtet.


Literaturangaben:

Karnofsky, Eva  (2005): Familiäre Gewalt und Kindesmissbrauch in Kolumbien. In: Brennpunkt Lateinamerika 4, Hamburg. S. 34-44

Lenzen, Manuela 13.04.2011: Diesseits der Schmerzgrenze. Faz.net

Lange, Michael 18.04.2011: Angst macht böse, Deutschlandradio Kultur.

UNICEF - United Nations Children’s Fund (2014): Hidden in Plain Sight: A statistical analysis of violence against children. New York. .

1 Kommentar:

Michael Kumpmann hat gesagt…

Du gehörst jetzt also offiziell zu den Psychohistorikern? Dann Viel Spaß beim Bau der großen Bibliothek auf Terminus. ;)

Sorry. Der Witz muss mal sein. Falls Du nicht verstehst, auf was Ich mich beziehe:

http://asimov.wikia.com/wiki/Terminus
http://asimov.wikia.com/wiki/Hari_Seldon

Lloyd de Mause hat auf Facebook auch mal was zu diesen Büchern geposted.