Donnerstag, 25. Oktober 2012

James Gilligan: Gewalt. (und die tieferen Ursachen)



Der (Gefängnis-)Psychiater James Gilligan hat jahrelang – über 25, um genau zu sein – mit diversen Mördern in US-Hochsicherheitsgefängnissen gearbeitet und seine Erkenntnisse daraus u.a. in dem Buch „Violence. Reflections on Our Deadliest Epidemic“ (meine Ausgabe 2000, Jessica Kingsley Publishers, London, UK; Erstausgabe 1996 in den USA) veröffentlicht. 

Er stellt ähnlich wie der Neurologe Pincus besonders schwere Gewalterfahrungen fest:
The degree of violence and cruelty to which these men have been subjected in childhood is so extreme and unusual that it gives a whole new meaning to the term “child abuse”. (…) The violent criminals I have known have been objects of violence from early childhood. They have seen their closest relatives – their father and mothers and sisters and brothers – murdered in front of their eyes, often by other family members. As children, these men were shot, axed, scaled, beaten, strangled, tortured, drugged, starved, suffocated, set on fire, thrown out of windows, raped, or prostituted by mothers who were their “pimps”; their bones have been broken; they have been locked in closets or attics for extended periods, and one man I know was deliberately locked by his parents in an empty icebox until he suffered brain damages from oxygen deprivation before he was let out.
“ (Gilligan, 2000: 43-46) Gilligan schreibt, dass ihm  hunderte Männer erzählt haben, wie sie als Kind beinahe todgeprügelt wurden. (S.  47) 
Gilligan spannt in seinem Buch den Bogen auch weiter, geht u.a. auf die Biologie ein, soziologische Thesen, strukturelle Gewalt und auf Armut und Verelendung. Ich gebe hier nur den Anfang wieder, den Anfang von Gewaltkarrieren und von Hass, dieser liegt in der Kindheit der Täter, was der Autor vor allem im ersten Teil seines Buches beschreibt.

Er bezeichnet die von ihm untersuchten Mörder als Untote („living dead“), was deren Selbstdefinition wiederspiegelt. (vgl. S. 31-39) Diese Männer erlebten derart brutale Misshandlungen und absolute Lieblosigkeit in ihrer Kindheit, dass sie sich leer, innerlich tot, wie „Zombies“, „Steine“ oder „Vampire“ fühlten. (Er ergänzt an anderer Stelle – vgl. S. 49 –, dass auch psychische Folter in der Kindheit alleine innerlich tote Menschen hinterlassen kann.) Sie fühlten nichts mehr, außer, wenn sie sich selbst oder jemanden anderen Gewalt antaten. Ihre Identität existierte nicht. Manche freuten sich auf den körperlichen Tod, der durch die Verurteilung zum Tode bevorstand. Er käme einer Erlösung gleich. Gilligan zitiert z.B. einen Mörder, der die Reaktion seiner Mutter im Gerichtssaal, nachdem er zum Tode verurteilt worden war, kommentiert: (von mir frei übersetzt) „Als sie im Gerichtssaal anfing zu weinen … weinte Sie über etwas, das bereits tot war. … Ich war bereits tot oder etwas ähnliches wie tot.“ An einer anderen Stelle sagte dieser Mann: „Ich weiß nicht, was Leben ist.“ (S.  37) 
Man sollte an dieser Stelle nicht vergessen, dass diese Mörder ganz normal wirken konnten, wie Du und Ich.
These men do not look like „zombies“ or „vampires“, nor do they necessarily behave differently from anyone else in the course of an ordinary conversation. In fact, the most extraordinary thing about these violent men is how ordinary they often appear on the surface. No matter how many violent people I have worked with, I still find myself amazed by these ordinary-looking men, who have actually committed extraordinarily brutal, violent crimes. “(S 33+34)

Eine gängige These lautet, dass Männer selbst erlebte Gewalt überwiegend dahingehend verarbeiten, dass sie Gewalt gegen Andere anwenden, ihren Hass außen ausleben, Frauen richten – der These folgend -  ihren Hass gegen sich selbst. Gilligan beschreibt dagegen, dass die (vorwiegend männlichen) Mörder – neben ihrem mörderischen Verhalten – ihren Hass auch gegen sich richteten, sie verletzten sich selbst, fügten sich Wunden zu usw., um dadurch „irgendetwas“ zu fühlen, zu merken, dass sie noch am Leben waren. (Anmerkung: Und wenn man sich genau ihren Lebensverlauf ansehen würde, würde man wahrscheinlich unzählige Verhaltensweisen feststellen, die selbstzerstörerisch wirkten, im beruflichen, sozialen wie auch im privaten Bereich) Wenn diese Männer an den Punkt kamen, dass die Selbstverletzungen und die Gewalt gegen Andere keinerlei Gefühle mehr bei Ihnen auslösten, brachten sich sehr viele selbst um. Gilligan schreibt, dass in den USA mehr Mörder durch Selbstmord umkommen, als durch die verhängte Todesstrafe. Die Selbstmordrate unter Mördern wäre einige hundert Mal höher, als unter normalen Menschen ähnlichen Alters, Geschlechts usw. (S. 41; Anmerkung: Nachdem er in Massachusetts als Gefängnispsychiater angefangen hatte, ging die Selbstmordrate vor Ort fast auf Null zurück.)

Gilligan beschreibt in seinem Buch weiter die emotionale Logik hinter der Gewalt, vor allem auch hinter extremer Gewalt. Jedes Gewaltverhalten ist demnach emotional zu verstehen, wenn man sich mit der Psyche der Mörder und Gewalttäter befasst. Was auf den ersten Blick unlogisch und sinnlos erscheint, z.B. extreme Gewaltausbrüche auf Grund von „Nichtigkeiten“, wird emotional verstehbar, wenn man um die Hintergründe des Täters weiß. So verstehe ich Gilligan.
Der Autor spricht auch von der „logic of shame“ (Logik von Schamgefühlen) (S.  
65). Das Wort “shame” spielt in dem Buch eine zentrale Rolle. Gilligan meint damit die totale Abwesenheit jeglicher Fähigkeit, sich selbst zu lieben (bedingt durch die Abwesenheit von Liebe und Gewalterfahrungen in der Kindheit; vgl. S. 47), was eine von grundauf mit chronischen Schamgefühlen und Unsicherheiten durchzogene (und auch innerlich „tote“) Persönlichkeit hinterlässt. Nach der Besprechung eines Fallbeispiels schreibt er: „(…) the most dangerous men on earth are those who are afraid that they are wimps.” (S.  66)  (Frei übersetzt: Die gefährlichsten Menschen der Welt sind die, die Angst davor haben, als “Warmduscher” angesehen zu werden.) Die Angst vor Beleidigungen, Beschämung, Demütigungen, abfälligen Blicken, Respektlosigkeit, das „Gesicht zu verlieren“ usw. (oder sich so zu fühlen), provozierte die Mörder dazu, zu töten. Diese Angst vor „Beschämung“ hing eindeutig mit den real erlebten „Beschämungen/Demütigungen“ in der Kindheit zusammen (Anmerkung: und den „bösen Augen, Blicken“ der Eltern). 

Die meisten Mörder verbergen diese Gefühle (Männer vor allem hinter einer extrem maskulin betonten Fassade), fühlen sich aber tief beschämt. Sie fühlen sich zugleich beschämt darüber, sich beschämt zu fühlen. (S. 111) „Behind the mask of „cool“ or selfassurance that many violent men clamp onto their faces (…) is a person who feels vulnerable not just to “loss of face” but to the total loss of honor, prestige, respect, and status – the disintegration of identity, especially their adult, masculine, heterosexual identity; their selfhood, personhood, rationality, and sanity.” (S. 112) Daher, so Gilligan, werden Kriminelle (und auch Kinder, was er in Klammern einfügt) um so gewalttätiger, je mehr sie bestraft werden. Die Strafen bringen erneute Beschämung/Demütigungen mit sich. (S. 113) 

Ähnlich wie Pincus überträgt Gilligan seine Arbeit mit Einzelpersonen auch auf kollektive Prozesse und nennt als Beispiel Nazi-Deutschland und die Angst der Deutschen vor der „Schande von Versailles“, den „bösen Augen und Blicken“ der Juden usw. (S. 66ff) Er beschreibt den symbolischen Gedanken, der seiner Auffassung nach hinter dem kollektiven Morden Anfang des 20. Jahrhunderts stand: „If we destroy the Jews, we will destroy the evil eye (because they are the bearers of the evil eye)”; or in other words, “If we destroy the Jews, we will destroy shame - we cannot be shamed.(S. 69) 

Mich erinnern diese Ausführungen an zwei Erlebnisse während meiner Zivizeit in einer Drogentherapieeinrichtung. Der eine „Klient“ war ein muskelbepackter Mann, der es liebte, sich mit Ketten und Indianerschmuck zu behängen. Ich war mit ihm, einem anderen Klienten und einer Therapeutin in unserem Dienstwagen unterwegs. Neben uns hielten zwei junge Männer, die neugierig zu uns herübersahen. Daraufhin rastete der erst genannte Mann aus, fing an zu toben und wollte aussteigen, um die zwei zu verprügeln. Die Therapeutin konnte ihn irgendwie davon abhalten. Er beruhigte sich dann, fügte aber noch hinzu, dass er, wenn er draußen alleine gewesen wäre, die beiden fertig gemacht hätte.
Ein anderer Mann, der vor seinem Entzug Zuhälter war und sehr viel wert auf sein „Zuhälteräußeres“ legte, verbrannte sich einmal mit einer Zigarette seine Jacke. Daraufhin rastete er ebenfalls aus, schlug gegen Tür und Wand und ich konnte ihn kaum beruhigen.
Sofern ich etwas über die Hintergründe der Drogenabhängigen erfuhr (teils besuchte ich im Rahmen meiner Tätigkeiten auch deren Familien und bekam Einblicke, die die Therapeuten nicht hatten) , durch Gespräche oder Berichte, stellte sich bei vielen eine sehr traumatischer Hintergrund in der Kindheit heraus. Die beiden o.g. Männer waren zu „cool“, als dass sie mir etwas über sich erzählt hätten (beide brachen auch die Therapie ab, bzw. ersterer wurde durch die Polizei mitgenommen, nachdem er bei einem Anfall das Büro der Therapeuten verwüstet hatte…) . Aber auch sie werden schwere, gewaltvolle Kindheiten gehabt haben. Ihr Selbstbewusstsein, ihre Identität hingen an einem seidenen Faden. Ein falscher Blick (und sich dadurch verletzt und nicht respektiert fühlen.) oder eine kaputte Jacke reichten aus, um eine vorher entspannte Situation in eine gefährliche Situation zu verwandeln. (bei anderen Klienten reichten solche „Beschämungen“ aus, um erneut rückfällig zu werden und wieder Drogen zu nehmen.) Solche „Beschämungen“ lösen, so meine ich, quasi Flashbacks aus, Erinnerungen an die Gewalt und Demütigungen in der Kindheit. Diese unerträglichen Gefühle sollen und wollen aber nicht erneut erlebt werden. Der Ausweg der Klienten: Gewalt oder Selbstvernichtung durch Drogen (und dabei auch kurzfristiger, guter Gefühle, sich geliebt und geborgen fühlen, durch die Einnahme von Substanzen). 

Ähnliches sieht man auch auf der politischen Bühne. Die Sprache von politischen Führern verrät, um was es eigentlich geht, wenn sie davon sprechen, dass man sich von einer anderen Nation „beleidigt“ oder „gedemütigt“ fühle, dass man nicht  „das Gesicht verlieren“ dürfe usw. Wie zerbrechlich das „Selbstbewusstsein von Nationen“ sein kann, sahen wir zu letzt am Deutlichsten nach dem 11. September. Statt die Ereignisse zu betrauern und rechtsstaatliche/friedliche Wege zu gehen, reagierte die USA wie ein „gewaltbereiter Drogenabhängiger“, man schlug einfach los, auf Nationen, von denen man sich bedroht und nicht-respektiert sah, man wollte nicht als „Warmduscher“ und „Weichei“ oder als "Opfer" dastehen, man wollte die starke und mächtige Fassade wiederherstellen, ganz egal wie die eigentlichen Realitäten aussahen. 

Ich erinnere mich an dieser Stelle an die Doku „Familienkrieg“, die ich vor mehreren Jahren einmal gesehen habe und die ich nie vergessen habe. Für die Doku wurde ein Neonazi und seine Familie filmisch begleitet. An einer Stelle sagte er etwas in der Art (meiner Erinnerung nach): „Jemand, der mich beleidigt und nicht respektiert, den mach ich platt.“ Das war im Prinzip sein wesentliches Lebenskonzept: Hass und die Angst, nicht respektiert zu werden.
In einem Filmausschnitt kann man den jungen Mann und seinen Hass sehen. In der Mitte schreit er seine Mutter an: (in einem Dialekt, so dass ich das schreibe, was ich verstehe):
Du hast mir vielleicht auf den Arsch oder an die Ohren hauen können, wie ich noch ein kleiner Junge war, aber jetzt bin ich ein bisschen größer wie Du und es kann sein, dass wenn Du mich jetzt noch einmal unterbrichst, dass ich Dir eins aufs Maul haue!“ Der Vater war zudem abwesend und ist – meiner Erinnerung nach – früh verstorben und blieb vom Sohn idealisiert. Die Gewalt der Mutter gegen den Sohn wird nicht unerheblich gewesen sein, wenn man sich anschaut, wie hasserfüllt und wie unsicher in seiner Identität dieser junge Mann geworden ist.


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