Donnerstag, 27. November 2008

UNICEF-Bericht zum Wohlergehen der Kinder in Industrieländern

Der Bericht „Child poverty in perspective: An overview of child well-being in rich countries“des UNICEF-Forschungsinstituts Innocenti aus dem Jahr 2007 liegt vor.

Deutsche Zusammenfassung hier: http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/presse/fotomaterial/Kinderarmut/StudieD.pdf

Erfasst wurden folgende Dimensionen, um die Lebenssituation von Kindern beurteilen und vergleichen zu können:


1. Materielle Situation

1 a Relative Einkommensarmut

1 b Arbeitslosigkeit der Eltern

1 c Mangelsituationen


2. Gesundheit

2 a Säuglingssterblichkeit und Geburtsgewicht

2 b Anteil geimpfter Kinder

2 c Unfälle und Verletzungen


3. Bildung

3 a Schulisches Leistungsvermögen

mit 15 Jahren

3 b Besuch weiterführender Schulen

3 c Übergang in die Arbeitswelt


4. Beziehungen zu Eltern und
Gleichaltrigen

4 a Familienstruktur

4 b Familienalltag

4 c Beziehungen zu Gleichaltrigen


5. Lebensweise und Risiken

5 a Gesunde Lebensweise

5 b Risikoreiches Verhalten

5 c Erfahrungen mit Gewalt


6. Eigene Einschätzung der Kinder

und Jugendlichen

6 a Eigene Gesundheit

6 b Situation in der Schule

6 c allgemeine Zufriedenheit


Deutschland liegt im Ergebnis auf Rang 11. Besonders schlecht schneiden Großbritannien (letzter Platz Nr. 21) und die USA (vorletzter Platz Nr. 20) ab.

Es ist schon interessant, dass ein Land wie die USA, welches in den letzten 8 Jahren unter Bush erheblich den Weltfrieden gefährdet und gleichzeitig die eigene Gesellschaft herunter gewirtschaftet hat, ganz hinten im Ranking um die Sorge für Kinder steht. Ich kenne nicht die Zahlen aus den Jahren vor Bush. Zwei gedankliche Richtungen gehen mir hier aber durch den Kopf:
Erstens scheinen Regierungen, die in erheblicher Weise destruktiv und kriegerisch agieren, immer auch unfähig oder besser gesagt unwillig, sich der Sorge um die eigenen Kinder anzunehmen. Was wiederum die Vermutung nahe legt (gerade auch wenn man sich mit Thesen von Lloyd deMause auseinandersetzt), dass sie es in Ihrer eigenen Kindheit nicht anders erfahren haben und die kollektive Vernachlässigung von Kindern auf Grund unbewusster Prozesse geschieht. Zweitens ist immer auch die Frage, in wie weit eine kollektive schlechte Versorgung von Kindern wiederum dazu beiträgt, dass eine Gesellschaft sich destruktiv-kriegerisch entwickelt. Das immer auch andere Faktoren mit in entsprechende Gesellschaftsanalysen einbezogen werden müssen, versteht sich. Nur warum werden solche naheliegenden Zusammenhänge wie oben beschrieben in der Öffentlichkeit kaum oder eher nie dargestellt?


Mittwoch, 26. November 2008

Parallelen zwischen Folter und Kindesmisshandlung

„Bei Folter geht es im Wesentlichen darum, den Willen, die Menschlichkeit und den Geist des Individuums zu zerstören, sodass es die Kontrolle über sich verliert und bereit ist, seinen Folterern die Kontrolle über sich zu übergeben“, wird im aktuellen greenpeace magazin ein Mitglied des kanadischen Zentrums für Folteropfer zitiert. (greenpeace magazin, 01/02/2009: „Denk nach, wie du am Leben bleibst“, S. 52-54, von Sylvia Feist )

Der Protagonist des Artikels, der durch die CIA verschleppt in Syrien fast ein Jahr lang gefoltert wurde, war nach dieser Zeit nicht mehr der selbe. „Ich war wie ein Hund“, erinnert er sich an die erste Zeit nach seiner Rückkehr, „ich war unterwürfig, schwach und habe alle Entscheidungen an meine Frau abgetreten. Ich war vollkommen zerstört, emotional und psychisch.“

Ich ändere jetzt mal obige Definition für Folter folgendermaßen:

Bei dem Missbrauch und der Misshandlung von Kindern geht es im Wesentlichen darum, den Willen, die Menschlichkeit und den Geist des Kindes zu zerstören, sodass es die Kontrolle über sich verliert und bereit ist, seinen Eltern die Kontrolle über sich zu übergeben“

Erschreckende Parallelen tun sich hier auf, wie ich finde, auch wenn es bei Folter um ein Extrembeispiel geht. Auch die Folgen der Folter beschreiben einen Teil der möglichen Wirkung auch von Kindesmisshandlung.

Weitere Gedanken zu diesen möglichen Parallelen zwischen "politisch motivierter" Folter und der Misshandlung von Kindern überlasse ich den LeserInnen dieses Blogs.

Donnerstag, 20. November 2008

Definition Krieg

Für eine ungewöhnliche Bearbeitung des Themas bedarf es auch einer ungewöhnlichen Definition von "Krieg".

Wie der Psychohistoriker Lloyd deMause Krieg definiert:

Krieg ist ein Ritual der Wiederaufführung früher Traumata zum Zweck der Rache und Selbstläuterung. Kriege sind klinische emotionale Störungen, kollektiv psychotische Episoden von wahnhaft erzeugter Schlächterei, mit der Absicht, einen schweren Kollaps der Selbstachtung zur Erreichung von Gerechtigkeit in Rache zu verwandeln. Kriege sind sowohl mörderisch als auch selbstmörderisch. (vgl. deMause, 2005, S. 119)

Krieg ist ein Opferritual, dazu bestimmt, Angst vor Individuation und Verlassenwerden abzuwehren, indem unsere frühen Traumata an Sündenböcken wiederaufgeführt werden. (ebd., S. 65)

Kriege sind Wohlstandsreduzierungsrituale. Sie sind Antworten auf Wachstumspanik - Antworten auf Fortschritt und Wohlstand, nicht auf Rückgang. Was tatsächlich schwindet, wenn Nationen entscheiden, in den Krieg zu ziehen, sind nicht ökonomische, sondern emotionale Ressourcen. (ebd., S. 112)

„Wachstumspanik“ entsteht nach deMause auf Grund früher Traumatisierungen und destruktiver Erziehung (ebd., S. 72ff + 96ff) (Dazu habe ich Näheres hier ausgeführt, im etwas hinteren Teil des Kapitels))

Eine solche Definition steht natürlich im krassen Gegensatz zu einer sozialwissenschaftlichen Definition von Krieg. DeMause bringt hier sowohl moralische Wertungen als auch ursächliche Erklärungen mit ein.
Der vollkommen anderer Ansatz wird noch deutlicher, wenn man sich z.B. die sozialwissenschaftliche Definition der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) anschaut (siehe hier ganz Unten im Text). Diese ist vollkommen wertneutral und beobachtet bzw. kategorisiert einfach das Geschehen. Für die Sozialwissenschaft sicherlich ein berechtigter Ansatz. Für die Art und Weise, wie ich mich hier mit dem Thema Krieg auseinandersetze, ist die „emotionale“ Definition von deMause die geeignetere.

Samstag, 15. November 2008

Fehlende Empathie und Krieg

Es ist für mich immer wieder erschreckend, wie sehr sich im Alltag das für mich bestätigt, über was ich hier schreibe.

Eine Bekannte von mir traf heute auf eine Bekannte (toller Satzbau...), nennen wir letztere einfach mal „Cordula“. Ich selbst habe das Gespräch zwischen den beiden nur bruchstückhaft mitbekommen, allerdings berichtete mir meine Bekannte anschließend ausführlich und sehr erschüttert:
Selbige hat vor einigen Monaten ein Kind bekommen und dies in dem Gespräch Cordula (diese ist ca. 65 Jahre alt) erzählt. Daraufhin bekam sie erst mal Glückwünsche und man kam ins Gespräch über Erziehung. Cordula kam gleich zur Sache und berichtete ganz offen (als Erziehungsempfehlung), wie sie früher einen ihrer Söhne regelmäßig mit einem Holzstab geschlagen hatte. Dieser Sohn sei im Gegensatz zu ihren anderen Kindern immer herausfordernder gewesen und habe sie stets auf die Palme getrieben. Die anderen Kinder waren einfach sensibler, meinte sie weiter. Doch dieser Sohn... Außerdem war sie oft alleine mit der Erziehung der Kinder, da musste sie sich durchsetzen. Ja und dieser Sohn habe sie sogar darum gebeten, bestraft zu werden. Sie wäre diesem Wunsch dann nachgekommen. Als der Holzstab schon etwas älter war, zerbrach er dann bei einer Ihrer Prügelaktionen. Der Sohn musste dann von seinem Taschengeld einen neuen kaufen, dies habe ihm ganz offensichtlich erheblich mehr weh getan, als die Bestrafungen. Cordula lacht und ist amüsiert. Jedenfalls, so meinte sie weiter, sei dieser Sohn von all ihren Kindern der robusteste und es habe ihm nicht geschadet.

Es ist für mich immer wieder ganz erstaunlich, wie empathielos Menschen sein können. Cordula fehlt offensichtlich jedes Unrechtsbewusstsein für ihre Handlungen. Mehr noch: Sie gibt im Jahr 2008 solche Erziehungsratschläge an eine junge Mutter. Es ist ihr nicht peinlich, sie scheint eher stolz darauf zu sein. Die Folgen für den Sohn werden kurz deutlich: Er sei der „robusteste“ von allen, die anderen seien sensibler. Robust bedeutet für sie, der schafft es im Leben. Robust bedeutet für mich in diesem Zusammenhang: Der arme Sohn, sehr wahrscheinlich musste er sich gefühlsmäßig ausschalten, um das alles zu ertragen.


Ich erinnere mich an ein anderes Erlebnis (ist schon ein paar Jahre her), das ich mit einer ehemaligen Kinderpflegerin hatte. Sie bekam mit, dass ich einen Text von Alice Miller las und fragte neugierig nach. Ich berichtete kurz, um was es ging und welche Thesen Miller vertritt. Daraufhin grübelte sie kurz. Dann meinte sie, „weißt Du, das ist nicht immer alles so zu sehen. Ich hatte in einem Kindergarten mal einen Jungen, der war wirklich schwierig. Außerdem hat er sich dauernd in die Hose gemacht. Irgendwann reichte es mir dann. Ich habe ihn geschnappt, bin mit ihm aufs Klo und habe ihn richtig durchgeprügelt. Danach war der nie wieder frech zu mir und hat sich benommen, wirklich vorbildlich. Außerdem habe ich seinen Eltern dann berichtete, dass ich ihn körperlich bestraft habe. Diese hatten damit kein Problem und meinten, dass das schon richtig so wäre.“ Diese Kinderpflegerin war sichtlich stolz auf ihren „Erfolg“. Für sie war es ihre Art mir zu sagen, dass Alice Miller ja wohl nicht immer recht haben könne.

Nachdem sie zu Ende berichtete hatte, fragte ich ohne weiteres Vorwort, wie sie denn ihre eigene Kindheit erlebt hatte und ob sie geschlagen worden war. Ihr stolzes Lächeln blieb in ihrem Gesicht und sie sagte: „Oh ja, wir sind richtig oft verprügelt worden. Wir mussten uns immer in der Reihe aufstellen und unserem Vater den Lederriemen überreichen. Danach konnten wir teilweise gar nicht mehr sitzen. Ach was haben wir Kinder damals Nachts zusammen über unsere Eltern geklagt“, sie lachte.

In beiden Beispielen sieht man, wie abgespalten diese Frauen von ihren Gefühlen sind. Im letzteren hat mich besonders erstaunt, dass die ehemalige Kinderpflegerin auch nach meiner deutlichen Nachfrage nicht den Zusammenhang verstanden hat, auf den ich sie hingewiesen hatte. Nämlich das sie weitergab, was sie selbst erlitten hatte. Sie lächelte einfach. Es war schlimm für mich zu sehen, wie gespalten diese Frau war.

Beide Frauen sind ansonsten vollkommen normal und unauffällig. Sind ökonomisch eher Mittel bis gehobene Mittelschicht. Haben einen breiten Bekannten- und Freundeskreis. Wissen, wie man sich benimmt usw.

Was hat das ganze nun mit dem Thema Krieg in diesem Blog zu tun? Sehr viel, meine ich. Denn diese Frauen sind keine Randgruppe, da bin ich sicher. Es ist erstaunlich wie ver-rückt beide eigentlich sind und wie scheinbar normal sie trotzdem ihr bürgerliches Leben hinbekommen. Warum werden in Kriegszeiten ganz normale Menschen plötzlich zu menschlichen Monstern? Eine Frage, die im Angesicht des Krieges oft gestellt wird. Die Antwort: Viele Menschen sind nur schein-normal, in vielen schlummert mörderische Aggressivität und viele besitzen kein Mitgefühl. Ein Weg, diese Spaltung aufzulösen, ist eine Psychotherapie. Ein anderer, viel wichtigerer ist Prävention in Form von massivem, gut strukturiertem und gut finanzierten Kinderschutz.

Donnerstag, 6. November 2008

„Krieg kann tödlich sein“

Gestern lief auf dem TV-Sender ARTE die Kriegs-Dokumentation „Die Hölle von Verdun“. Eigentlich schaue ich nur noch selten solche Dokus, weil ich meine Lebenszeit auch mit schöneren Bildern ausfüllen kann. Diese Doku hat mich allerdings sehr beeindruckt, weil sie wie kaum eine zweite die Schrecken der Realität Krieg und die Hölle, die die Soldaten erleben, bildlich darstellt. Ganz besonders blieb mir ein sogenannter Zitter-Soldat in Erinnerung. Dieser kriegstraumatisierte Mann bekam den Schrecken, das blanke Entsetzen und das Zittern nicht mehr aus seinem Gesicht. Er war fast die zu fleisch gewordene Menschenfigur von Edvard Munchs Bild „Der Schrei“... Ich persönlich hielt nur die Hälfte der Sendung aus, weil mir der Krieg zu sehr ins Schlafzimmer kroch.

Irgendwie kam dann eine Fantasie dazu. Eigentlich wäre es doch sinnvoll, wenn Soldatenanwärter bevor sie ihre Zeitverträge oder auch ihre Entscheidung, Wehrdienst zu leisten, schriftlich absegnen, solche Dokus vorgeführt bekommen, gesetzlich verordnet in einem Raum mit anderen Anwärtern. Da sich o.g. Doku auf den ersten Weltkrieg bezieht und dieser ja „schon lange her ist“, müsste die Doku noch um eine aktuelle z.B. aus dem Irakkrieg ergänzt werden.

Auf den Soldaten-Verträgen müssten dann - wir nehmen mal an, ich bin jetzt z.B. Gesundheitsminister der BRD und bekomme eine Mehrheit für diese gesetzliche Regelungen – ähnlich wie auf Zigarettenpackungen aus gesundheitlichen Fürsorgepflichten der Bundesregierung heraus und auch auf Grund juristischer Absicherungen Sätze stehen wie: „Krieg lässt Sie altern“, „Das Soldatenleben kann tödlich sein“, Krieg fügt Ihnen und den Menschen in ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu“, „Krieg kann tödlich sein“, „Soldaten sterben früher“. usw.

Zugegeben, diese Idee lässt mich fast schmunzeln. Aber sie ist eigentlich ernst gemeint. Warum sollte so etwas nicht möglich sein? Letztlich soll es ja nur um einen symbolischen Akt gehen, der auch die leise Hoffnung beinhaltet, dass die Verdrängung vor der Realität Soldat bei dem ein oder anderen Anwärter durch solche Regelungen kurz aufbricht und er sich anders entscheidet. Und wahrscheinlich würden sich trotzdem noch genug Soldaten finden.

Sonntag, 2. November 2008

Grundsätzliche Hinweise

Oder: Wie ich nicht verstanden werden möchte

Meine Erfahrung bei diesem Thema ist, dass als erste Reaktion oftmals erst mal abgewehrt wird (teils auch mit sehr emotionalen oder manchmal auch wütenden Reaktionen). Das ist auch verständlich, u.a. deswegen, weil die meisten Menschen Verletzungen in ihrer eigenen Kindheit erfahren mussten. Wenn dann Zusammenhänge zu eigenem späteren Gewaltverhalten aufgezeigt werden, wird das oft in die Richtung gedeutete: "Dann hätte aus mir ja auch ein Gewalttäter werden müssen, dann bin ich mit diesem Hinweis auch gemeint, eine solche Äußerung verletzt mich sehr!" Eine solche Pauschalisierung liegt mir natürlich fern!

Viele Menschen haben auch Angst davor, auf Grund ihrer Kindheitserfahrungen stigmatisiert oder auf diese reduziert zu werden, gerade auch, wenn diese Erfahrungen von erheblicher Gewalt und schwerem Missbrauch geprägt waren. Auch eine Stigmatisierung oder Reduzierung von Menschen liegt mir fern! Wir müssen Menschen immer nach ihrem Verhalten beurteilen.

Eine weitere Angst fiel mir bei Diskussionen auf. Die Angst davor, dass das zerstörerische Verhalten von TäterInnen durch die Analyse ihrer destruktiven Kindheiten entschuldigt oder gar gerechtfertigt würde. Auch dies liegt mir fern. Einem Opfer kann es natürlich herzlich egal sein, was ein Täter als Kind erlitten hat. Ein Richter sollte den einen Täter vor dem Gesetz nicht anders behandeln, als den anderen, nur weil es dem einen „als Kind schlechter erging“. Und ein Therapeut kann zusammen mit einem Täter vielleicht vieles analysieren, was für dessen Heilung auch wichtig ist, wenn es aber zu Rechtfertigungen kommt, muss eine klare Grenze gezogen werden. Niemand hat das Recht, die Würde eines anderen Menschen zu verletzen, Punkt. Und: Als Menschen haben wir immer auch die Wahl und tragen Verantwortung für unser Handeln und unsere Entscheidungen.

Nichts desto Trotz finde ich in den Texten hier deutliche Worte und Zusammenhänge zwischen destruktiven Kindheiten und destruktiven Verhaltensweisen. Ich befinde mich dabei allerdings auch auf der Analyseebene, das bitte ich zu verstehen. Mir geht es dabei insbesondere um die Prävention von Gewalt und um die Schaffung von einem Bewusstsein dafür, wie entscheidend uns alle die Kindheit prägt. Ich persönlich sehe mich dabei eher als Vermittler des Themas. Es gibt (Fach-)Menschen, die wesentlich mehr Ahnung von dem Thema haben und bessere Worte finden, als ich. Mir persönlich hilft dieser Blog, einige Gedanken zu ordnen. Und ich meine, dass gar nicht genug auf dieses Thema hingewiesen werden kann.

Mir wurde schon einmal vorgeworfen, dass aus meinem Grundlagentext nur ein Entweder/Oder, ein hier „die guten nicht-misshandelten“ und dort die „bösen misshandelten Menschen“ hervorgehen würde. Ich sehe die Gefahr, dass eine solch schwarz-weiße Deutung je nach dem, wie der Text individuell verstanden und empfunden wird möglich ist. Allerdings möchte ich auch auf die „Grautöne“ im Text verweisen: Stichworte z.B. „Helfender Zeuge“, unterschiedliche Formen und Auswirkungen der Gewalterfahrungen, Einfluss gesellschaftlicher Prozesse wie sie z.B. der „Hamburger Ansatz“ beschreibt.
Wichtig ist mir hier zu sagen, dass meinem Empfinden nach unsere Welt auch kompliziert, ungerecht, herausfordernd und manches mal auch unglücklich machend bleiben würde, wenn die meisten Menschen als Kind Liebe und Achtung erfahren hätten. Ich behaupte nicht, dass das Leben einfach ist (was es ja auch so spannend macht :-) ) Außerdem sind wir nun mal Menschen, wir machen Fehler. Ich glaube aber in der Tat, dass so etwas enorm destruktives wie Krieg nicht mehr entstehen würde, wenn ein bedeutender Teil der Menschheit liebevoll und ohne Gewalt heranwachsen dürfte. Ich bin dabei im Grunde auch Optimist. Es wird noch so einige Generationen dauern, aber es zeichnet sich im historischen Rückblick ab, dass sich die Kindererziehung von Generation zu Generation verbessert und die Menschen dadurch immer emphatischer werden. Nie zuvor in der Geschichte wurden Kinder zu gut behandelt, hatten Kinder so viele Rechte und wurde Kindern und ihrer Entwicklung so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie heute (trotz aller immer noch erschreckender Zahlen, die vorliegen). Es ist somit nur eine Frage von Zeit. Haltet mich für verrückt: Ich bin mir sicher, dass spätere Generationen mit dem gleichen Erschrecken und Unverständnis in die Geschichte auf Kriege blicken werden, wie wir dies heute in Europa tun, wenn wir uns z.B. mit der mittelalterlichen Hexenverbrennung oder der mittelalterlichen Medizin beschäftigen. Kriege werden für spätere Generationen nicht mal mehr theoretisch vorstellbar sein.

Weitere Gedanken zu möglicher Kritik habe ich mir hier gemacht

Samstag, 1. November 2008

Kindesmisshandlung in Pakistan

Es ist nicht gerade leicht, für Länder wie Pakistan und Entwicklungsgesellschaften allgemein verlässliche Zahlen zu bekommen, wie viele Kinder in diesen Ländern misshandelt werden.

In dem Grundlagentext schrieb ich:
"Außerdem wurde in den 90er Jahren in verschiedenen Untersuchungen festgestellt, dass das Ausmaß der häuslichen Gewalt gegen Frauen in Entwicklungsgesellschaften (Ausmaß: ca. 30 bis 80 %) im Vergleich zu westlichen Ländern (Ausmaß: ca. 20 – 28 %) oftmals erheblich höher ist. Pakistan (Ausmaß: 80 %) und Tansania (Ausmaß: 60%) stehen dabei an der Spitze der Liste. (vgl. Seager (1998) zit. nach amnesty journal, 03/2008, S. 16) Entsprechend erleben in diesen Ländern auch Kinder häufiger Gewalt mit. "

Diese Zeilen habe ich jetzt im Text wie folgt ergänzt:
"Untersuchungen aus den USA zeigen darüber hinaus, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Mütter und Gewalt gegen Kinder besteht. Die Überschneidung von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung beträgt je nach Studiendesign 30 % bis 60 %. Zusätzlich wurde in medizinischen Versorgungseinrichtungen festgestellt, dass 45 % bis 59 % der Mütter von misshandelten Kindern gleichfalls von Gewalt betroffen sind. (vgl. Hellbernd / Brzank,. 2006, S. 93) Wenn man diese Zahlen auch für Entwicklungsgesellschaften zu Grunde legt, ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein sehr hohes Ausmaß an Kindesmisshandlung. Für Pakistan mit 80 % betroffenen Frauen wäre dann z.B. anzunehmen, dass auch die Kindesmisshandlung in diesem Land extrem verbreitet ist."

Für Deutschland gilt, dass 10 bis 15 % der Kinder körperlich misshandelt werden. 25 % aller deutschen Frauen erleben in ihrem Leben Gewalt durch den Partner sprich häusliche Gewalt. Dieses Verhältnis ist natürlich nur sehr grob und steht nicht in direktem Zusammenhang. Zu Bedenken ist, dass von den 25 % zum Zeitpunkt der Gewalterfahrung ca. die Hälfte mit Kindern lebten; dass auch Frauen Kinder misshandeln usw.
Es dürfte trotzdem einleuchten, dass für Pakistan - mit 80 % von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen in den 90er Jahren - sicher auch entsprechend hohe Raten von Kindesmisshandlung zu verzeichnen sind. Es dürfte auf Grund dieser groben Zahlenspiele nicht übertrieben sein, wenn man für Pakistan von ca. 30-40 % misshandelten Kindern ausgeht.

Somit dürfte auch der alltägliche Terror, der Fundamentalismus und die politische Instabilität in diesem Land deutlich mit der weit verbreiteten Gewalt in den pakistanischen Familien zusammenhängen. Wenn diese familiäre Gewalt im Zusammenhang mit den aktuellen Modernisierungsprozessen (und entsprechenden Konklikten) in Pakistan betrachtet wird, lässt sich die politische Gewalt in diesem Land gut ursächlich erklären, wie ich meine. Leider wird erst genannter Zusammenhang oft gar nicht erst in entsprechende Analysen einbezogen.


Montag, 27. Oktober 2008

Inhaltsverzeichnis


(Destruktive) Kindheitserfahrungen im Kontext von Krieg 


(zuletzt aktualisiert am 17.06.2011)

Hinweis: Der Text ist mittlerweile stark veraltet und auch formal nicht perfekt. Da er allerdings der Grund dafür war, diesen Blog zu gründen, lasse ich ihn selbstverständlich online. Siehe für aktuellere Texte den INDEX)


„Glückliche Menschen fangen keine Kriege an.“
(deMause, 2005, S. 109)

Inhaltsverzeichnis


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1. Einleitung: (destruktive) Kindheitserfahrungen im Kontext von Krieg


Das Thema Gewalt gegen Kinder bzw. destruktive Erziehung ist für mich im Kontext von Krieg ein wesentliches. Es wird nach meinem Eindruck in der Kriegsursachenforschung oft unterschätzt und vernachlässigt. Ich möchte dies in einem kleinen Bild festmachen. SoziologInnen, PolitologInnen und HistorikerInnen usw. sind in diesem Bild eifrige Gärtner, die einen verzweifelten Kampf gegen das wuchernde „Unkraut des Kriegsgartens“ austragen. Sie haben erkannt: Wichtige, äußere Umwelteinflüsse beeinflussen das Wuchern des Unkrauts, z.B. die Wetterlage, Klimaveränderungen oder die Quantität und Qualität des Düngers. An diesen Umwelteinflüssen setzen sie an und versuchen gleichzeitig, das Unkraut mit Kraftakten und ggf. Gewalt zu entfernen. Doch im Angesicht des immer weiter wuchernden Unkrauts haben sie glatt die Wurzeln übersehen, die sich ihrem Blick entziehen. An diesen Wurzeln setzen einige PsychoanalytikerInnen und PsychohistorikerInnen mit ihren Thesen an. Ein Zusammenwirken als voneinander lernende „Gärtnergemeinschaft“ könnte sicher einiges umfassender erklären und bewegen.

Zu fragen ist also: Wie ist es möglich, dass Millionen von Menschen dazu motiviert werden können, sich für diverse, egoistische oder auch „gerechte“ Ziele (denen ihrer Machthabern und ggf. eigenen) töten zu lassen und/oder andere Menschen zu töten bzw. dazu zu motivieren? In wie weit bestimmen dabei (destruktive) Kindheitserfahrungen die Entwicklung hin zum Krieg? Die erste Frage legt zunächst nahe, zwischen Machthabern/Regierenden und den Beherrschten/Regierten zu differenzieren. Letztere Gruppe werde ich, um den Einfluss von Kindheit anschaulicher zu machen, in Soldaten und das Volk an sich aufteilen. Danach werde ich noch der Frage nachgehen, ob entgegen der „Männlichkeit des Krieges“ der Frieden weiblich ist. Interessant fand ich zusätzlich die Frage, in wie weit der Krieg Folgen auch für die nachfolgenden Generationen hat
Ich verstehe diese Arbeit in Anbetracht der Komplexität des Themas vor allem als gedankliche Anregung. Vor allem komplexe politisch-sozio-ökonomische Dimensionen des Krieges muss ich aus Platzgründen außen vor lassen. Mir ist auch bewusst, dass auf den ersten Blick die vielen Themen, die ich mir innerhalb dieses Textes vorgenommen habe, zu unterschiedlich erscheinen und das ganze zu verwirren drohen. Ich meine aber, dass hier ein roter Faden zu finden ist und bemühe mich, diesen im Verlauf des Textes darzustellen. Im Sinne des Bildes „Wurzel des Übels“ stelle ich psychoanalytische bzw. psychohistorische Überlegungen zur Kindheit ins Zentrum der Arbeit. Im letzten Abschnitt gebe ich allerdings mit Hinweis auf den „Hamburger Ansatz“ eine Anregung dazu, wie psychohistorische Überlegungen zur Kindheit mit einer Gesellschaftstheorie über die Kriegsursachen verknüpft werden könnten (Denn dieser Text entstand ursprünglich auf Grundlage eines politischen Seminars an der UNI Hamburg ca. 2003, in dem der „Hamburger Ansatz“ vermittelt wurde. Meine damalige Hausarbeit habe ich hier erheblich ausgeweitet). Ausschlaggebend bei der Auswahl der Literatur waren für mich am Anfang meiner Recherchen die Thesen von Arno Gruen und Alice Miller. Entsprechend habe ich versucht, Literatur zu finden, die diese Thesen untermauern. Offensichtlich gibt es nur wenig Literatur, die sich hauptsächlich mit den gesellschaftlich-politischen Auswirkung von Kindheitserfahrungen beschäftigt (Eine Ausnahme ist dabei der Forschungsbereich „Psychohistorie“ insbesondere vertreten durch Lloyd deMause, den ich hier hervorheben möchte. Sein Buch „Das emotionale Leben der Nationen“ ist in meinen Augen ein Muss für alle, die sich mit den tieferen Ursachen von Krieg beschäftigen möchten.). Im Rahmen allgemeiner Untersuchungen über Kriegsursachen werden Kindheitserfahrungen und erzieherische Einflüsse meist gar nicht und wenn doch, dann meist knapp als ein Punkt unter vielen abgehandelt. Zum selben Eindruck kam ich auch bei meiner Internetrecherche. Selbst bei der freien Internetenzyklopädie Wikipedia ist zum Thema Kriegsursachen nicht ein einziges Wort von Kindheitserfahrungen und Psychoanalyse zu lesen (genannt werden nur ökonomische, politische, ideologische, religiöse und kulturelle Kriegsgründe; Stand 19.01.2008 unter http://de.wikipedia.org/wiki/Krieg). Um so wichtiger finde ich es, diesem Thema in dieser Arbeit eine zentrale Bedeutung zukommen zu lassen.



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2. Historische und aktuelle Dimensionen der Gewalt gegen Kinder

Hinweis: Mein gesamter "Grundlagentext" ist mittlerweile veraltet, insofern würde ich heute den Zahlenteil auch etwas anders darstellen. Bitte sonstige Blogbeiträge verfolgen, da ich mich immer wieder mit Zahlen und Studien befasse, alte Texte aber nicht ständig aktualisieren kann!

Die Lebendigkeit und der Eigenwille des Kindes, die Quelle von Aufmüpfigkeit und Autonomie, muss eingedämmt werden, so dachte man großteils im geschichtlichen Verlauf. Es galt die Maxime, die von Schmidt 1887 in der "Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens" exemplarisch formuliert wurde: "Der Wille des Kindes muss gebrochen werden, d.h. es muss lernen, nicht sich selbst, sondern einem anderen zu folgen" (zit. n. Keupp, 1999, S. 6). Diese Maxime durchzieht die Geschichte fast aller menschlicher Gesellschaften. Die Bibel ist ein weiterer exemplarischer Beleg dafür: Wer seine Kinder liebt und vor Torheiten bewahren will, der schlägt und züchtigt sie, ist der „erzieherische“ Leitgedanke vor allem im Alten Testament. (vgl. z.B. Dtn 21,18-21; Spr 3,11; Spr 3,12; Spr 13,24; Spr 29,17; Sir 22,6; Sir 30,12) Zudem galten Kinder lange Zeit als Besitz ihrer Eltern bzw. des Vaters, mit denen nach Belieben umgegangen werden konnte; Kinder waren recht- und schutzlos. "Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen.", schrieb der Psychohistoriker Lloyd deMause (1992) zur Evolution der Kindheit. (deMause, 1992, S. 12) Und: „Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto mehr sinkt das Niveau der Kindererziehung.“ (ebd., 2005, S. 269)

Nachfolgende Zahlen aus der Gegenwart zeigen, wie nachhaltig die „Geschichte der Kindheit“ weiterhin wirkt: In sozialwissenschaftlichen Studien ist belegt, dass die Hälfte bis zwei Drittel aller Eltern ihre Kinder körperlich bestrafen, wobei man davon ausgeht, dass 10 bis 15 % dies häufig und schwerwiegend tun.[1] (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002, S. 220)
Eine bundesdeutsche Repräsentativstudie kommt auf der Opferseite zu ähnlichen Ergebnissen. 74,9 % der Befragten gaben an, in ihrer Kindheit körperliche Gewalterfahrungen seitens ihrer Eltern erlebt zu haben. 38,4 % wurden häufiger als selten körperlich gezüchtigt. Elterliche Misshandlungen erlebten 10,6 %, 4,7 % häufiger als selten. (vgl. Wetzels, 1997. S. 146)
Ein Vergleich zwischen drei repräsentativen Jugendstudien (jeweils 1992, 2002 und 2005) zeigt, dass ca. 30 % (jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 29,6 % und 32 %) der Jugendlichen gewaltfrei erzogen wurden. Die große Mitte sind die „konventionell“ erzogenen, die häufig leichte körperliche Bestrafungen und andere Sanktionen erfahren haben und in deren Erziehung „weitgehend“ auf schwere körperliche Gewalt verzichtet wurde. (Zahlen jeweils in der Reihenfolge der Jahreszahlen: 36,4 %, 51,2 % und 46, 7 %). Eine gewaltbelastete Erziehung (Diese Gruppe weist bei allen Sanktionsarten – inkl. psychischer Gewalt - eine überdurchschnittlich hohe Häufigkeit auf, insbesondere auch schwere Körperstrafen.) erlebten jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 19,3 % und 21,3 %. (vgl. Bundesministerium der Justiz, 2007, S. 18)
(Hinweis: Es gibt neuere rep. Studien zum Sexuellen Missbrauch, die andere Zahlen nahelegen!)
Bei einer weit gefassten Definition kann außerdem auf Grundlage von vor allem europäischen und nordamerikanischen Studien davon ausgegangen werden, dass jedes 3./4. Mädchen und jeder 7./8. Junge mindestens einmal sexuell missbraucht wird (ca. 25% der Übergriffe erfolgen durch Familienangehörige, weitere 50-60% durch Menschen aus dem sozialen Nahbereich). (vgl. Bange, 2002; Gloor / Pfister, 1995; Finkelhor, 1997; Bundesarbeitsgemeinschaft Prävention & Prophylaxe e.V.) DeMause (2005) hat darauf hingewiesen, dass höhere Raten nachgewiesen werden, wenn mit den Befragten ein Vertrauensverhältnis im Rahmen von Interviews, die zwischen einer und acht Stunden gehen, aufgebaut werden kann. Demnach gaben bei entsprechenden amerikanischen Studien zwischen 38% (Studie von Russel) und 45 % (Studie von Wyatt) der befragten Frauen an, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein. (vgl. deMause, 2005, S. 256)
Auch die Kindesvernachlässigung ist laut Einschätzungen von Experten eine weit verbreitete Form von Kindesmisshandlung. Esser (2002) geht davon aus, dass in Deutschland 5 bis 10 % aller Kinder mit klinisch relevanten Folgen durch ihre Eltern abgelehnt oder vernachlässigt werden. Esser beschreibt zudem eine deutsche Risikokinderstudie, in der 384 erstgeborene Kinder von der Geburt bis zum Alter von 11 Jahren begleitet wurden. Bei 15,4 % aller Kinder wurden Ablehnung und/oder Vernachlässigung festgestellt. (vgl. Esser, 2002, S, 103ff) Andere Quellen stellen das Ausmaß der Vernachlässigung wie folgt dar: Als Untergrenze wird geschätzt, das mindestens 50.000 Kinder in Deutschland unter erheblicher Vernachlässigung leiden, nach oben hin schwanken die Zahlen zwischen 250.000 und 500.000 Kindern. (vgl. Deutscher Kinderschutzbund / Institut für soziale Arbeit e.V., 2000)
Die Forschung bzgl. psychischer Misshandlung ist dagegen erst in den Anfängen. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass die psychische Misshandlung die häufigste Form der Kindesmisshandlung ist und zudem oftmals mit anderen Misshandlungsformen einhergeht. (vgl. Brassard / Hardy, 2002, S. 589ff) Auch diese Misshandlungsform hat erhebliche Folgen für die Kinder.
Ein weiteres relativ unbeleuchtetes Feld ist das Miterleben von Gewalt und die möglichen Folgen für die Kinder. Strasser (2001) vermittelt eindrücklich, wie Gewalt gegen Frauen auch als Trauma für die mit den Erwachsenen zusammenlebenden Kinder wirken kann bzw. wie häusliche Gewalt gegen Frauen eine Form von psychischer Gewalt gegen Kinder darstellt.
Eine erste deutsche repräsentative Studie zeigt, dass von 10.000 befragten Frauen jede Vierte im Alter von 16 bis 85 Jahren bereits ein- oder mehrmals körperliche oder zusätzlich sexuelle Übergriffe eines Beziehungspartners erlitten hat. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004a)
Sofern Kinder in den betreffenden Familien leben, werden hier die möglichen Dimensionen der von Kindern miterlebten Gewalt deutlich. Die Arbeit am zusätzlichen Tabuthema „Frauengewalt gegen Männer“ zeigt darüber hinaus, dass auch Frauen an häuslicher Gewalt beteiligt sein können und dies ebenfalls Folgen für die Kinder haben wird. (vgl. ausführlich Kantonale Fachkommission für Gleichstellungsfragen, 2006)
Auch Geschwister, die Gewalt miterleben, müssen in diesen Themenkomplex Beachtung finden. Elterliche Gewaltanwendung gegenüber Kindern ruft nicht nur Schäden bei dem unmittelbar angegriffenen Opfer hervor. Es wird angenommen, dass die nichtangegriffenen Geschwister psychisch in ebensolchem Maße geschädigt werden wie das eigentliche Opfer und so zu mittelbaren Opfern werden. Das Erlebnis von Tätlichkeiten der Eltern gegenüber dem Bruder oder der Schwester verursacht bei ihnen Furcht und vermittelt ein Gefühl der Verwundbarkeit und der mangelnden Geborgenheit. Zusätzlich werden Zusammenhänge zwischen eigenem späteren Gewaltverhalten und dem Miterleben von Gewalt angenommen. (vgl. Schneider, 1998, S. 337)
Ins Blickfeld der Wissenschaft gerät zunehmend auch der Fötus und dessen (psychische) Entwicklung im Mutterlaib. DeMause (2005) weist nach, dass bereits Föten Stress und Gewalt erleben und erinnern, was Auswirkungen auf das spätere Leben haben kann (Er nennt dies „Fötales Drama“). Föten erleben z.B. psychische oder körperliche Gewalt durch den Partner gegen die Mutter, direkte Ablehnung des Fötus, Belastungen durch Alkohol-, Drogen- oder Nikotinkonsum der Mutter, Belastungen durch Stress- und Angstzustände der Mutter usw. (vgl. deMause, 2005, S.56ff)
Ich habe lange nach einer passenden Formulierung für ein weiteres Themenfeld gesucht und diese schließlich (mehr zufällig) in einem Text gefunden, der sich mit den Auswirkungen der NS-Erziehungsideale beschäftigt: „Die Frage scheint mir berechtigt, ob die Enteignung des Kindes schon weit früher, vor der Geburt, sogar vor der Zeugung beginnt und ob dies für das Kind schon in frühem Stadium von Bedeutung sein könnte. Alle Eltern bilden ja aus Erwartungen, Hoffnungen, Fantasien erste Identitätsvorstellungen um das erwartete Kind herum. Sie weben damit gleichsam eine psychische Hülle, in die das Kind dann hineingeboren wird. Diese Hülle ist von der Einstellung der Eltern zum Kind stark geprägt. Bildlich gesprochen braucht das Neugeborene diese Hülle, um eine gesunde Haut bilden zu können.“ (Langendorf, 2006, S. 278ff) Die Erwartungen von Eltern innerhalb des NS-Systems wirkten sich schon früh negativ auf die Kinder aus, so der weitere Ansatz von Langendorf. Dies kann man sicherlich auch weiterstricken. Ich denke z.B. an Eltern, deren Grund fürs Kinderkriegen der ist, dass sie von „ihrem Unglücklichsein“ befreit werden wollen; ich denke an Frauen, die eine Trennung auf sich zukommen sehen und die „schnell noch mal“ ein Kind bekommen, um den Partner doch noch irgendwie zu binden; ich denke an Leihmütter, die das Kind für andere Eltern bekommen; ich denke an die Eltern, die ein zweites und drittes Kind bekommen, weil „es beim ersten irgendwie alles schief gelaufen ist“ usw. usf. Es geht also im Kern um den eigentlichen Grund fürs Kinder kriegen. In diesem Grund findet sich so manches mal schon die erste Demütigung, Missachtung und Funktionalisierung des Kindes.

Zu vermuten ist auch, dass Ausmaß und Härte der Kindesmisshandlung in noch weitgehend traditionelleren, patriarchalen Gesellschaften entsprechend höher und ausgeprägter sein könnte. Entsprechende Gesellschaftsstrukturen stellen laut Gelles (2002) einen Risikofaktor für Gewalt in der Familie dar. (vgl. Gelles, 2002, S. 1060)
In Ägypten sagten beispielsweise bei einer Umfrage 37 % der Kinder, dass sie von ihren Eltern geschlagen oder gefesselt würden. 26 % berichteten über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung aufgrund der Misshandlungen. (vgl. Youssef, Attia & Kamel, 1998 zit. nach WHO, 2002, S. 62) In Äthiopien berichteten 21 % der befragten städtischen Schüler und 64 % der ländlichen Schüler von Blutergüsse oder Prellungen auf Grund körperlicher Bestrafungen durch ihre Eltern. (Ketsela & Kedebe, 1997 zit. nach WHO, 2002, S. 62) Im Iran wurden Schüler im Alter von 11 bis 18 Jahren befragt. 38,5 % berichteten über körperliche Gewalt in ihrer Familie, die leichte bis schwere Verletzungen zur Folge hatte. Im Yemen berichteten fast 90% der Kinder, dass körperliche Bestrafungen und Demütigungen die wesentliche Disziplinierungsform in ihren Familien darstellt. Das selbe Bild ergab eine Untersuchung in Südkorea, dort halten 90 % der Eltern körperliche Bestrafungen ihrer Kinder für notwendig. (vgl. UNICEF, 2006b, S. 52ff)
Eine Studie kommt zu dem Schluss, dass 36,1 % aller kolumbianischen Kinder irgendwann Opfer von Misshandlungen werden. Jedes zehnte Kind, das in ein kolumbianisches Krankenhaus eingeliefert wird, muss wegen häuslicher Gewalt behandelt werden; die Dunkelziffer wird hier vermutlich viel höher liegen, da viele Ärzte sich nicht der Mühe unterziehen, Misshandlungen anzuzeigen. (vgl. BRENNPUNKT LATEINAMERIKA, 2005, S. 39)
Garbarino & Bradshaw (2002) berichten, dass in China Kinder als „Eigentum“ ihrer Eltern angesehen werden, wodurch auch die Wahrscheinlichkeit sinken würde, dass Nachbarn etc. bei einem Verdacht auf Misshandlungen z.B. in Form einer Anzeige eingreifen würden. (vgl. Garbarino & Bradshaw, 2002, S. 901) Bereits die Definition als "Eigentum" stellt meiner Ansicht nach eine erhebliche Demütigung und Missachtung des Kindes dar. Etwas mehr Licht ins chinesische Dunkelfeld bringen folgende Zahlen: 461 von 1000 (ca. 46 %) befragten chinesischen Eltern (in Hong Kong) berichteten, dass sie schwere körperliche Gewalt gegen ihre Kinder angewendet haben. (vgl. WHO, 2002, S. 63) Eine Studie, in der SchülerInnen direkt befragt wurden ergab, dass 22,6 % der chinesischen und 51,3 % der süd-koreanischen Kinder schwere körperliche Gewalt durch ihre Eltern erlebt haben. (ebd.)

DeMause zeichnet ein eindrückliches Bild von der elterlichen Gewalt gegen Kinder in islamisch, fundamentalistischen Familien und Gesellschaften (z.B. Palästina, Pakistan, Afghanistan oder auch Saudi-Arabien) und kommt zu dem Schluss, dass die dort existierenden „Erziehungspraktiken“ jenen sehr ähnlich sind, wie sie einst Kindern im mittelalterlichen Westen routinemäßig zugefügt worden sind. In Form von: Sexuellem Missbrauch, strikter Gehorsamseinforderung, Schlagen, Treten, Schütteln, Schneiden, Vergiften, Unter-Wasser-Halten, Würgen, Beschießen, Stechen, Beißen, Verbrennen, Ermorden usw. (vgl. deMause, 2005, S. 39ff)
Für eine Diplomarbeit – vgl. Bette (2006) - wurden 287 afghanische Schulkinder aus Kabul, Afghanistan befragt. 41,6% der Kinder berichteten, von ihrem Vater geschlagen zu werden und 59,9% berichteten, von ihrer Mutter geschlagen zu werden. Fast ein Drittel aller Kinder berichteten von mehr als fünf Typen häuslicher Gewalterfahrungen. Die Typen häuslicher Gewalterfahrung, die am häufigsten berichtet wurden waren Schläge auf den Körper, die Arme oder die Beine und angeschrien oder beleidigt zu werden.
Besonders Afrika ist leider immer noch weitgehend eine „blackbox“, was die Forschung über die Kindererziehungspraxis und Kindesmisshandlung angeht. Bzgl. Kenia habe ich eine interessante HRW-Studie gefunden, die über das hohe Ausmaß von Gewalt gegen Kinder in Schulen berichtet: „For most Kenyan children, violence is a regular part of the school experience. Teachers use caning, slapping, and whipping to maintain classroom discipline and to punish children for poor academic performance. The infliction of corporal punishment is routine, arbitrary, and often brutal. Bruises and cuts are regular by-products of school punishments, and more severe injuries (broken bones, knocked-out teeth, internal bleeding) are not infrequent. At times, beatings by teachers leave children permanently disfigured, disabled or dead.„ (Human Rights Watch, 1999) Es ist naheliegend, dass eine solche Akzeptanz ja geradezu „Normalität“ von Gewalt an kenianischen Schulen gleichzeitig etwas über die Akzeptanz von elterlicher Gewalt aussagt. In der Studie heißt es dazu weiter. „Various forms of corporal punishment (and other punishments like manual labor) have a long pedigree in Kenya. Many Kenyans told Human Rights Watch that physical chastisement has long been accepted in Kenyan homes.” (ebd.)

In den 90er Jahren wurde in verschiedenen Untersuchungen festgestellt, dass das Ausmaß der häuslichen Gewalt gegen Frauen in Entwicklungsgesellschaften (Ausmaß: ca. 30 bis 80 %) im Vergleich zu westlichen Ländern (Ausmaß: ca. 20 – 28 %) oftmals erheblich höher ist. Pakistan (Ausmaß: 80 %) und Tansania (Ausmaß: 60%) stehen dabei an der Spitze der Liste. (vgl. Seager (1998) zit. nach amnesty journal, 03/2008, S. 16) Entsprechend erleben in diesen Ländern auch Kinder häufiger Gewalt mit.
Untersuchungen aus den USA zeigen darüber hinaus, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Mütter und Gewalt gegen Kinder besteht. Die Überschneidung von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung beträgt je nach Studiendesign 30 % bis 60 %. Zusätzlich wurde in medizinischen Versorgungseinrichtungen festgestellt, dass 45 % bis 59 % der Mütter von misshandelten Kindern gleichfalls von Gewalt betroffen sind. (vgl. Hellbernd / Brzank,. 2006, S. 93) Wenn man diese Zahlen auch für Entwicklungsgesellschaften zu Grunde legt, ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein sehr hohes Ausmaß an Kindesmisshandlung. Für Pakistan mit 80 % betroffenen Frauen wäre dann z.B. anzunehmen, dass auch die Kindesmisshandlung in diesem Land extrem verbreitet ist.
Zusätzlich lässt sich bei diesem Thema auch auf deutsche Untersuchungen bzgl. MigrantInnen zurückgreifen. In einem Sonderteil zeigt eine bereits weiter o.g. Untersuchung, dass in Deutschland lebende türkische Migrantinnen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung deutlich häufiger - nämlich 38 % der Befragten - Gewalt durch Beziehungspartner erfahren haben. Sie hatten außerdem auch mehr Situationen von Gewalt und – gemessen an den Verletzungsfolgen – schwerere und bedrohlichere Formen von Gewalt erlebt als der Bevölkerungsdurchschnitt. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004a) Dass türkisch stämmige Kinder/Jugendliche im Vergleich zu Deutschen häufiger Gewalt zwischen ihren Eltern miterleben, bestätigen auch Pfeiffer & Wetzels (2000), die ca. 16.000 Jugendliche befragt haben. Fast jeder dritte türkische Jugendliche berichtete in den letzten 12.Monaten vor der Befragung Gewalt zwischen den Eltern miterlebt zu haben, gegenüber nur jedem elften Deutschen. Auch elterliche Misshandlungen erlebten türkische Jugendliche signifikant häufiger als Deutsche. (vgl. Pfeiffer & Wetzels, 2000) Dass ethnische Unterschiede im Gewalterleben innerhalb von Familien bestehen, zeigt auch die Untersuchung von Baier & Pfeiffer (2007) bei der ca. 14.300 Jugendliche befragt wurden. Häufiges Erleben von Ohrfeigen, hartes Anpacken, Werfen mit Gegenstand bzw. Erleben von Misshandlung (Verprügeln, mit der Faust schlagen) erlebten türkische (29,8 %), russische (25,4 %), jugoslawische (27,9 %), polnische (27,6 %) und italienische (30,7 %) Jugendliche häufiger als Deutsche (17 %) (Die Deutschen erlebten dagegen häufiger „leichte Züchtigungen“ als die anderen Gruppen). (vgl. Baier & Pfeiffer, 2007)
Dass Deutschland bzw. Europa – trotz erschreckend hoher Gewaltraten gegen Kinder – im internationalen Vergleich kein Maßstab ist, zeigt auch, dass weltweit nur 16 Länder das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert haben (darunter auch Deutschland) - Stand 2006. Bis heute haben 106 Staaten die Prügelstrafe in Schulen nicht ausdrücklich verboten (dazu zählen auch die USA). Weitere Zahlen aus der UNICEF-Studie (2006) sprechen für sich: Schätzungsweise 150 Millionen Mädchen und 73 Millionen Jungen unter 18 Jahren werden zum Geschlechtsverkehr gezwungen oder geschlagen. Zwischen 133 und 275 Millionen Kinder und Jugendliche sind jedes Jahr in ihren Familien Zeugen von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Schätzungsweise 5,7 Millionen Kinder leben allein in Südasien in Schuldknechtschaft usw. usf. (vgl. UNICEF, 2006a)
Oftmals bedingt schon der kulturelle Kontext bzw. „die Tradition“ Gewalt. Ich denke da z.B. an Zwangsheiraten und an die Genitalienverstümmelung. Weltweit sind im Jahr 2008 nach Schätzungen von ExpertInnen 51 Millionen Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren zur Heirat gezwungen worden. In den darauf folgenden 10 Jahren werden pro Tag ca. 25.000 hinzukommen, die meisten davon in Afrika und Asien. Die jüngsten Bräute leben in dem indischen Bundesstaat Rajastahn, dort sind 15 % aller Ehefrauen bei ihrer Hochzeit keine 10 Jahre alt. Im Haushalt der Ehemänner werden Kinderbräute oft ausgebeutet und Opfer von Gewalt. Unzählige werden in der Hochzeitsnacht vergewaltigt. (vgl. EMMA, 07./08. 2008) Wie sollen Mädchen und auch Jungen, die (gewaltvoll) zur Heirat gezwungen werden, liebevolle Eltern werden, wenn schon ihre “Liebe” keine echte ist und von Trauer, Wut und Ohnmacht begleitet ist? Und wie ergeht es Frauen, denen als Kind die Genitalien verstümmelt wurden? Ca. 2 Millionen Mädchen (täglich ca. 6000) werden jedes Jahr weltweit Opfer der Genitalenverstümmelung. (vgl. UNICEF, 1997)
Ebenso werden in vielen Ländern Jungen beschnitten. "Die relativ gesehen geringfügigere aber immer noch schwerwiegende Verstümmelung von Jungen wird nach wie vor größtenteils ignoriert, wie auch die Tatsache, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit unabhängig vom Geschlecht gilt. Darüberhinaus wird auch die Beschneidung von Knaben in Ländern der Dritten Welt etwa in Afrika, Vorderasien und Indonesien oder bei den Aborigines in Australien nicht unter Narkose und mit sterilisierten chirurgischen Instrumenten sondern mit sehr primitivem Werkzeug vorgenommen, was nicht selten zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod führen kann." (www.uni-protokolle.de, "Beschneidung von Jungen und Männern")

(siehe ergänzend zu den Zahlen "Gewalt gegen Kinder in Entwicklungsländern"!)

Die weiteste Verbreitung der Gewalt gegen Kinder und die extremsten Ausformungen finden sich letztendlich bei den Stämmen und Urvölkern. DeMause hat – sowohl historisch als auch relativ aktuell - nachgewiesen, dass in diesen Kulturen sehr hohe Raten von Kindermord (bei den australischen Aborigines wurden früher z.B. bis zu 50 % der Säuglinge getötet; für Neuguinea gilt, dass die Mütter mindestens ein Drittel ihrer Neugeborenen umbringen), Inzest, Körperverstümmelung, Kindervergewaltigung, Folterung und emotionale Verstoßung zu finden sind. Routinemäßig sind dort dissoziative Persönlichkeitsstrukturen die Folge, was die kulturelle Weiterentwicklung hemmt. (vgl. deMause, 2005, S. 184ff)

Die Ergebnisse weiter o.g. Untersuchungen müssen zusätzlich unter einem Gesichtspunkt betrachtet werden, den eine UNICEF- Studie aus dem Jahr 2003 wie folgt darstellt: „So erschreckend die Ergebnisse solcher Befragungen sind, geben sie doch nur die halbe Wahrheit wieder. Denn man muss davon ausgehen, dass viele ehemalige Gewaltopfer nicht über ihre Erfahrungen in der frühen Kindheit sprechen können oder wollen.“ (UNICEF, 2003)
Von den in einer englischen Studie befragten jungen Erwachsenen, die von den Forschern als „schwer misshandelt“ eingestuft wurden, gaben beispielsweise weniger als die Hälfte dies zu. Von denen, die „gelegentlich misshandelt“ wurden, beschrieben sich weniger als 10 % als „misshandelt“, auch wenn alle von Handlungen sprachen, die sie als „niemals gerechtfertigt“ ansahen. Eine Befragung von 10.000 Erwachsenen in den USA (1994) ergab, das 40 % von denen, die als Kinder nach körperlichen Misshandlungen ein oder zwei Mal medizinische behandelt wurden, sich selbst nicht als „misshandelt“ einstuften.(vgl. ebd.) Das Bild, das Befragungen liefern, ist also nicht übertrieben, sondern scheint noch untertrieben.
US-amerikanische Studien zeigen auch, dass kleine Kinder am stärksten von körperlicher Gewalt bedroht sind. Körperliche Strafen gegen Kinder erreichen demnach einen Höhepunkt im Alter von drei Jahren. (vgl. Melzer/Lenz/Bilz, 2010, S. 962) Gerade bewusste Erinnerungen an konkrete Erlebnisse aus den ersten drei Jahren verblassen später allerdings oftmals. Eine irische Mutter, die ihre Kinder misshandelt hatte, formulierte es so: „Du musst sie schlagen, solange sie noch zu klein sind, um sich daran zu erinnern und dir Vorwürfe machen können.“ (deMause, 2005, S. 241)
Zusätzlich beleuchtet dieser Aspekt des Umdeutens, Verdrängens und der fehlenden bewussten Erinnerung der erlittenen Gewalt etwas, das ich im Kapitel „Das einst misshandelte Volk identifiziert sich mit dem Aggressor“ ausführlich darstellen werde.

Mir ist bewusst, dass manche Thesen, die im weiteren Textverlauf folgen werden, bei vielen LeserInnen starke Widerstände und Kritik hervorrufen könnten. An dieser Stelle des Textes möchte ich allerdings einen – wie ich empfinde - nicht übertriebenen Satz festhalten, der auf Grund obiger Datenlage kaum kritisierbar ist. Zu allen Zeiten, gestern, heute und morgen, herrscht auch in Friedenszeiten Krieg: Der Krieg der Erwachsenen gegen die Kinder. Das enorme Ausmaß ja geradezu die Normalität der Gewalt gegen Kinder und deren Vielfältigkeit muss man sich klar vor Augen führen bzw. muss man sich als ersten Schritt überhaupt bewusst machen, um daraus die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen ermessen zu können. (Alleine das Wahrnehmen der enormen Gewalt gegen Kinder braucht bei vielen Menschen meiner persönlichen Erfahrung nach oftmals Jahre bzw. ist mit erheblichen Abwehrhaltungen verbunden. Dies ist insofern verständlich und normal, da die Beschäftigung mit diesem Thema unweigerlich an eigenen verletzenden Erfahrungen rührt) ) Die o.g. UNICEF-Studie beschreibt mögliche Folgen der Gewalt gegen Kinder u.a. wie folgt: „Gewalt zieht Gewalt nach sich: So geraten die betroffenen Kinder als Erwachsene oft in eine Opferrolle oder üben selbst Gewalt gegen andere aus.“ (UNICEF, 2006a, siehe dazu u.a. auch Van der Kolk. / Streeck-Fischer, 2002) Diesem destruktivem Potential möchte ich im Kontext von Krieg und seinen Ursachen weitere Beachtung schenken.


[1] Diese Angaben treffen übrigens auch auf unsere Nachbarn in Österreich zu. (vgl. Buchner et.al., 2002, S. 139ff)


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3. Kindheitserfahrungen und Psychopathologie der Machthaber als Wurzel kriegerischer Politik

Kindheitserfahrungen in der Familie werden von verschiedenen AutorInnen als wichtige Grundlage für gesellschaftliches und politisches Leben und Wirken angeführt (vgl. Mantell, 1978; Miller 1983; Bassyouni, 1990; Christel / Hopf, 1997; Gruen, 2002a, deMause, 2005) bzw. es wird die Bedeutung der Psychologie und Psychopathologie für die Politik hervorgehoben. (vgl. Richter, 1996; Frank, 2004; Wirth, 2006; Kornbichler, 2007) DeMause (2005) hat eindrücklich formuliert: „Jede Kindererziehungspraxis in der Geschichte wird im erwachsenen politischen Verhalten wiederaufgeführt.“ (deMause, 2005, S.119) und „Politische Parteien unterscheiden sich eher nach Psychoklassen (Erwachsene mit ähnlichen Kindererziehungsmodi) als nach ökonomischen Klassen.“ (ebd., S. 188)
Regierungen bestehen letztlich aus ehemaligen Kindern, die groß geworden sind. Regierungsmitglieder und Beamte bringen die Werte, Einstellungen und Neigungen, die sie als Kinder lernten, mit in ihr Amt. Richter (1996) fragt danach, warum Menschen sich davor scheuen, Politik zu psychologisieren bzw. geradezu davor gewarnt wird, in der Politik nach psychischen Einflussfaktoren zu suchen und das, obwohl seit Freud der Einfluss unbewusster Motive eigentlich klar sein sollte. Richter sieht vor allem die Interessen der Machteliten (selbst), die ihre emotionalen Motive verleugnen und das eigene Tun als nüchterne Regelung von Sachfragen beschreiben, als Hindernis entsprechender Psychologisierungen. Mit dem Verweis der Psychologie auf den Privatbereich der Individuen und deren Familien sieht er einen wesentlichen Aspekt ausgeblendet, dessen Klärung zur Heilung der „psychischen Krankheit Friedlosigkeit“ seiner Ansicht nach von zentraler Bedeutung wäre. (vgl. Richter, 1996, S. 27ff)
Aber auch das Volk entemotionalisiert und entpsychologisiert laut Richter die Politik und das obwohl im Volk selbst u.a. sozialpsychologische Dynamiken wirken, z.B. bei Wahlen. (Ein relativ aktuelles Beispiel dafür ist das erstaunliche Wahlergebnis der „Schill-Partei“, die nach ihrem Gründer Ronald Schill – im Volksmund „Richter Gnadenlos“ – benannt wurde. Die Schill-Partei erzielte nur ein Jahr (!) nach Parteigründung bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg 2001 durch ihren rechts-populistischen Wahlkampf und durch die „Ein-Mann-Show“ ihres Gründers 19,4 % der Stimmen. Dieser plötzliche Wahlerfolg ist, so meine ich, nicht nur einfach auf Protestwähler zurückzuführen, sondern hat in der Tiefe etwas mit der „Identifikation mit dem Aggressor“ zu tun und dem Wunsch nach „einer starken Hand“ in der Politik, was ich weiter unten deutlich ausführen werde. Ein weiteres - für mich noch erstaunlicheres - Beispiel ist die Wiederwahl des (nach meinem Empfinden sehr destruktiven) amerikanischen Präsidenten George W. Bush im Jahr 2004. Diese Beispiele zeigen, wie aktuell die in dieser Arbeit benannten Prozesse weiterhin sind.)
Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Tief sitzt der Wunsch, dass dort, wo Vernunft und „das Gute“ geschehen solle und wo die Machtmittel liegen, ggf. über Krieg und Frieden zu entscheiden, die innere Welt und Emotionen keinen Einfluss haben. Insgeheim wissen wir, dass diese Annahme, dieser Wunsch nicht zu halten ist, so Richter weiter. Könnte überhaupt eine menschliche Politik herauskommen, wenn sie von Leuten gemacht würde, die in ihr nicht als vollständige Menschen mit Empfindungen und Gefühlen handeln? Eine interessante Frage, wie ich finde, denn oftmals entschieden in der Geschichte gerade Menschen mit einem gestörten Zugang zu ihren Gefühlen und unbewussten destruktiven Motiven bzw. mit einer pathologischen Persönlichkeitsstruktur u.a. über Krieg und Frieden [1], was ich nachfolgend etwas ausführlicher behandeln werde.



[1] siehe auch ausführlich Kornbichler (2007) und Wirth (2006)



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3.1. Die Kindheit von Diktatoren und destruktiven Politikern

3.1. Die Kindheit von Diktatoren und destruktiven Politikern: Wilhelm II, Ludwig XIII., Friedrich II., Napoleon Bonaparte, Benito Mussolini, Francisco Franco, Nicolae Ceauşescu, Mao Zedong, Nero, Slobodan Milosevic, Saddam Hussein, Ronald Reagan, George H. W. Bush und George W. Bush.
 
Die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren sagte in ihrer Rede „Niemals Gewalt“ im Jahr 1978 bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels: „(...) In keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun. (...) Wie aber war denn nun die Kindheit aller dieser wirklich "verdorbenen Knaben", von denen es zurzeit so viele auf der Welt gibt, dieser Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Menschenschinder? Dem sollte man einmal nachgehen. Ich bin überzeugt davon, dass wir bei den meisten von ihnen auf einen tyrannischen Erzieher stoßen würden, der mit einer Rute hinter ihnen stand, ob sie nun aus Holz war oder im Demütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachen bestand. (...)“ (DIE ZEIT, 13.11.2007)

Wilhelm II – der letzte deutsche Kaiser – vertraute dem Fürsten Eulenburg einst folgendes an: „Der Kaiser erinnert sich mit Bitterkeit an die bei ihm angewandten Erziehungsmethoden, vor allem an die mangelnde Liebe der Mutter und die verfehlten Experimente seines Erziehers. »Er wollte aus mir sein Ideal eines Fürsten machen (...) So kommt es, dass ich absolut nichts empfinde, wo andere leiden (...) Es fehlt mir etwas, das andere haben. Alle Lyrik in mir ist tot.«“ (Gruen, 2002a, S. 44) Auch viele damalige Beobachter – darunter auch die eigene Mutter, Schwester und der Vater – nannten als hervorstechendes Merkmal von Wilhelms Charakter seine „eisige Herzenskälte“ und „Gefühllosigkeit“. (vgl. Röhl, 2001, S. 400) Kornbichler (2007) bezeichnet Wilhelm II als seelisch schwer gestörten Menschen, der zudem an einem starken Minderwertigkeitskomplex litt. „Beim Prinzen Wilhelm fand das statt, was die Psychoanalytiker als Identifikation mit dem Aggressor bezeichnen. Zunächst Opfer der zwangsmoralischen Disziplinierung und soldatischen Indoktrinierung seitens seiner Erzieher, identifizierte er sich nach und nach mit dieser aggressiven Lebensform; so wurde aus dem Opfer im Laufe der Jahre ein Täter.“ (Kornbichler, 2007, S. 165) Kornbichler zitiert einen Bericht, der einen Einblick in die Art der Erziehung bei Hofe gibt. Der Prinzenerzieher Hinzpeter trat im Herbst 1866 seinen Posten an, „und für den kleinen Prinzen begann jetzt – zusätzlich zu den täglichen Elektrisierungen, den gymnastischen Übungen mit der Armstreckmaschine, dem regelmäßigen Anschnallen eines aufgeschlitzten frisch geschlachteten Tieres – die denkbar härteste Erziehung durch einen Hauslehrer, der von vornherein auf die uneingeschränkte Gewalt über die Seele seines Zöglings bestanden hatte. Mit siebeneinhalb Jahren wurde Prinz Wilhelm in die erbarmungslosen Hände eines schrulligen, "spartanischen Idealisten" ohne Gemüt übergeben.“ (ebd., S.161) "Freudlos wie das Wesen dieses pedantischen und herben Mannes", erinnert sich später der Kaiser, so "freudlos die Jugendzeit". (GEOEPOCHE, 2003/04) Bei seiner Geburt war Wilhelm scheintot und hatte zudem schwere Probleme mit dem linken Arm, der kürzer war, als der rechte und lahm war. Den "unbrauchbaren Arm" hat seine Mutter ihm zeitlebens übel genommen und dem Sohn ihre Liebe entzogen. Auch der Vater, Kronprinz Friedrich, hat seine Unzufriedenheit am Sohn ausgelassen, hat ihn missachtet, ihn vor Zeugen "unreif" geschimpft und "urteilslos". (vgl. ebd.) Sein Arm war auch der "Grund" für bereits oben angedeutete Quälerein. GEOEPOCHE beschreibt weitere Details: Operationen, "Fixierungs-Gestelle", Fesselung des rechten Arms, um den linken zur Aktivität zu ermuntern und "animalische Bäder" der lahmen Extremität im Blut frisch geschlachteter Hasen. Diese Zeit - die "medizinische Behandlung" ging über 12 Jahre lang - muss für den kleinen Wilhelm der reine Horror gewesen sein. (siehe dazu auch Röhl, 2001, S. 63ff)
Wilhelms Mutter hatte – folgt man den Ausführungen von Röhl - zudem etwas überfürsorgliches und aufdringliches, forderte stets Liebe von Ihrem Sohn und deutete schon früh viele seiner Reaktionen und Verhaltensweisen als Ablehnung ihr gegenüber. Röhl schreibt an einer Stelle aufschlussreich: „Was die Kronprinzessin nicht erkennen konnte, war, dass (…) sie selbst das eigentliche Problem im psychischen Leben Wilhelms darstellte. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn, so wie er war, nicht akzeptieren. (…) Gerade weil sie so viel von ihm erwartete, hielt sie mit ihrer Kritik nicht zurück. Wilhelm aber, der diese Kritik als Ablehnung auffassen musste, stand vor der Wahl, sich selbst aufzugeben oder sich von der Mutter abzuwenden.“ (Röhl, 2001, S. 401) Wilhelm brach dann schließlich ab dem jugendlichen Alter zusehends den Kontakt zu seinen Eltern ab.
Den reinen Horror brachte Wilhelm II. seinerseits später über Europa, als er den ersten Weltkrieg entflammte. Schon früh hatte er im Militär etwas gesucht, was er als Kind nicht finden konnte: Beim 1. Garderegiment in Potsdam fand der Prinz jene "Familie", die "ich bis dahin hatte entbehren müssen". (vgl. GEOEPOCHE, 2003/04)
Nachdem Millionen Menschen getötet waren und der deutsche Kaiser im holländischen Exil machtlos seinen Lebensabend verbringen musste, kämpfte er rastlos weiter gegen alles Lebendige. "Wie besessen fällt er die Bäume im Park und sägt sie in Stücke; am 12. November 1919 erlegt er den zwölftausendsten Stamm." (ebd.)

Dass es den königlichen Kinder Europas in der Vergangenheit nicht anders erging, als den Kindern im Volk, zeigt auch das Beispiel von Ludwig XIII. (König von Frankreich), über den – nach Zenz (1981) - berichtet wird, dass er bereits im Alter von zwei Jahren regelmäßig jeden Morgen gepeitscht wurde und unter entsprechenden Folgen wie z.B. Alpträumen litt. Am Tage seiner Krönung, da war er noch ein Kind, soll er gesagt haben: „Ich würde auf so viel Huldigung und Ehre gern verzichten, wenn man mich statt dessen weniger peitschen würde.“ (Zenz, 1981, S. 37) Zudem war der kleine Ludwig – obwohl über ein Dutzend Kindermädchen und Pflegepersonal mit seiner Obsorge beauftragt gewesen waren – regelmäßig unterernährt, manchmal sogar dem Tode nahe. (vgl. deMause, 2005, S. 231) Den für die Pflege Zuständigen fehlte offensichtlich das Einfühlungsvermögen, um das Kind ausreichend zu ernähren.
Die ersten Lebensjahre von Ludwig XIII. waren zusätzlich von einer Fülle sexueller Übergriffe und Grenzüberschreitungen begleitet. Er ist noch kein Jahr alt, dokumentiert Philippe Aries, als seine Kinderfrau ihn masturbiert. (vgl. Aries, 1981, S.175) Als er ein Jahr alt ist, wird sein Penis von allen möglichen Leuten „geküsst“. „Während der ersten drei Jahre seine Lebens findet niemand etwas dabei, zum Scherz das Geschlechtsteil dieses Kindes zu berühren.“ (ebd., S. 176) Seine Amme fasst ihn – so Aries - ebenso an, wie die Dienerschaft, „einfältige Jugendliche“, „leichtlebige Frauen“, die eigene Mutter und auch der Vater. Dazu kommen perverse Drohungen (zum „Scherz“). „Seine Amme hatte ihm eingeschärft: Monsieur, lassen Sie nur niemanden Ihre Hoden anrühren, auch ihren Piephahn nicht, sonst wird er Ihnen abgeschnitten.“ (ebd.) Der kleine Ludwig wurde auch zusammen mit seiner Schwester nackt zum König – seinem Vater – ins Bett gelegt, „wo sie sich küssen, miteinander flüstern und dem König großes Vergnügen bereiten.“ Als er vier Jahre alt ist, ist – in Worten von Aries - „seine sexuelle Aufklärung so gut wie abgeschlossen.“ Ab dem Alter von fünf oder sechs Jahren nahmen diese Übergriffe dann ab. Seine eigentliche Erziehung begann kaum vor dem siebten Lebensjahr. Davor – so scheint es – war er freigegeben für alle erdenklichen „sexuellen Scherze“ und Übergriffe, jeder konnte mit ihm tun, was er oder sie wollte. Ab dem Alter von sieben Jahren galt er als kleiner Mann und man ließ von ihm ab. Ludwig selbst entwickelte in dieser Zeit bereits sadistische Züge. So z.B. bzgl. dem Umgang mit seiner Amme. „Er treibt seine Späße mit ihr, lässt sie die Zehen bewegen, die Beine hochheben, sagt seiner Amme, sie solle Ruten holen, um sie durchzuhauen, lässt diesen Auftrag ausführen (…)“ (ebd., S. 177) Ludwig ist etwas über vierzehn Jahre alt, da drängte man ihn nahezu gewaltsam ins Bett seiner ihm versprochenen Frau. Nach der Trauungzeremonie musste er in Gegenwart der eigenen Mutter mit seiner Frau schlafen. Ludwig XIII. wurde als Kind ganz eindeutig schwer sexuell missbraucht und traumatisiert.
Die spätere Regierung Ludwigs XIII. war ein repressives und blutiges Regime. Er kannte keine Zweifel oder Skrupel bei der Durchsetzung seiner Ziele. Jeder Widerstand, egal welcher Art, wurde brutal niedergeschlagen. (vgl. Cremer , 2006, S. 177ff) Diese harte Politik traf auch engste Berater und die eigene Mutter, die er – nachdem sie sich gegen ihn gerichtet hatte - in die Verbannung schickte. Ludwig XIII. war auch in verschiedene kriegerische Handlungen und eine Reihe von Feldzüge verwickelt. Teils ging er dabei besonders grausam vor. So z.B. Im Jahr 1629, als er nach der Kapitulation der Stadt Privas diese plündern und brandschatzen ließ; die Bevölkerung wurde teils niedergemetzelt, teils vertrieben. (vgl. ebd., S. 181)

Der Kronprinz Friedrich II. (der Große und König von Preußen, 1712 - 1786) verbrachte seine ersten vier Lebensjahre unter der Fürsorge einer Untergouvernante, über deren Erziehungsstil man nichts erfährt. Wie in damaligen hochadligen Familien üblich, überließen die leiblichen Eltern die Erziehung komplett Anderen, was im Grunde systematisch den ersten schweren Bruch mit dem Kind bedeutet. Friedrichs Mutter – Königin Sophie Dorothea – scheint kaum eine Rolle im Leben des Kronprinzen gespielt zu haben. Der Biograf Johannes Kunisch beschreibt im Grunde überhaupt keine Beziehung oder Begegnungen mit ihrem Sohn. Alles, was man dazu erfährt ist folgendes: „Ob dem Heranwachsenden in seiner Kindheit jemals mütterliche Zuwendung und Wärme zuteil geworden ist, mag (…) zweifelhaft erscheinen. Spätestens seit die dynastischen Ambitionen der Königin in Bezug auf ihre Kinder abgewiesen und enttäuscht worden waren, trat zutage, dass besonders der Kronprinz und seine Schwester Wilhelmine lediglich Werkzeuge eines machtpolitischen Kalküls waren, das ständig häusliche Konflikte und gelegentlich heftige Auseinandersetzungen heraufbeschwor (…).“ (Kunisch, 2009, S. 12)
Genauer beschrieben ist die Beziehung zum Vater – König Friedrich Wilhelm I. Dieser wird als jähzorniger, unberechenbarer, tyrannischer und aufs Militärische fixierter Vater beschrieben. Die Kindheit und Jugend Friedrichs war auf Anweisung und unter Beteiligung des Vaters von einer militärischen Erziehung mit Drill, körperlichen Züchtigungen und seelischen Verletzungen geprägt. (vgl. WDR, Planet Wissen, 01.06.2009 und Kunisch, 2009) Der junge Friedrich interessierte sich mehr für Musik, Literatur und Sprachen als für das Soldatentum, was dem Willen seines Vaters komplett entgegenlief. Heimlich spielte er Flöte, las französische Romane und lernte Latein. Wenn der Vater davon Wind bekam, setzte es Prügel, auch vor den Augen von Offizieren und Dienstboten. Einem Lehrer, der mit dem Sohn Latein übte, verabreichte der König höchst persönlich Prügel, wie Friedrich II. später selbst berichtete. Danach war der Sohn dran, der sich erschreckt durch den Wutausbruch des Vaters unter einem Tisch verkrochen hatte. Friedrich II. dazu: „Ich zitterte noch mehr; er packte mich an den Haaren, zieht mich unter dem Tisch hervor, schleppt mich so bis in die Mitte des Zimmers und versetzt mir endlich einige Ohrfeigen: "Komm mir wieder mit deiner mensa, und du wirst sehen, wie ich dir den Kopf zurechtsetze" “ (Kunisch, 2009, S. 20) Je älter der Kronprinz wurde, desto strenger und reglementierter wurde die durch den Vater angewiesene Erziehung. Aus der Jugendzeit des Kronprinzen ist eine Konfliktsituation überliefert, in der er vom Vater zunächst vor der versammelten Dienerschaft misshandelt wurde. „Dabei schrie er ihn an und gab ihm in provozierender Verächtlichkeit zu verstehen, dass er sich totgeschossen hätte, wenn er von seinem Vater so behandelt worden wäre; doch er, Friedrich, lasse sich ja alles gefallen.“ (ebd. S. 24) Hier wird der blanke Hass des Vaters deutlich, der sich wünscht, dass sein Sohn sich umbringt. Friedrich II. schrieb im Alter von Sechzehn Jahren noch einmal einen verzweifelten Brief an den Vater, in dem er den „grausamen Hass, den ich aus allem seinen (Anmerkung: des Königs) Tun genug habe wahrnehmen können“, von sich fernzuhalten hoffte. Die schriftliche Antwort des Königs beschreibt zusammenfassend die Haltung des Vaters: „Sein eigensinniger böser Kopf, der nicht seinen Vater liebet, denn wenn man nun Alles thut, absonderlich seinen Vater liebet, so thut man, was er haben will, nicht wenn er dabei steht, sondern wenn er nicht Alles sieht. (…)“ (ebd. S. 24f) Der Vater wollte eine Marionette, jeder Eigensinn sollte dem Sohn ausgetrieben werden. Friedrich versuchte sich immer mehr der Kontrolle des Vaters zu entziehen und wurde auch ein Meister darin, sich zu verstellen. Um dem jähzornigen Vater zu entkommen, beschloss der Thronfolger schließlich 1730 die Flucht. Doch die Pläne flogen auf, Friedrich wurde als Deserteur verhaftet und in Festungshaft genommen. Sein Vater verhängte die Todesstrafe über Friedrichs besten Freund, Hans Hermann von Katte, der in die Fluchtpläne eingeweiht war. Bei der Hinrichtung musste der Kronprinz zusehen. (vgl. ZDF, 11.11.2008) In der Folge beugte sich Friedrich II. nun dem Befehl seines Vaters und heiratete auf dessen Wunsch Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern, an der Friedrich keinerlei Interesse hatte. Als späterer König führte Friedrich II. häufig, ja fast ununterbrochen Krieg. Es scheint so, dass er letztendlich den Willen des Vaters komplett entsprochen wenn nicht gar noch übertroffen hat. Friedrich II. hat sich absolut mit dem Aggressor identifiziert und ist selbst zu einem unerbittlichen Aggressor und Kriegsherren geworden.
Die Geschichte von Friedrich II. hat insofern ein ganz besondere Tragik, wenn man sich die Entwicklungen vor Augen hält, die er selbst in dem Gedicht „An Jordan“ vom 10. Juni 1742 beschrieb:
"Als ich geboren ward, ward ich der Kunst geboren, (…)
Und für des Herrschers Hochmut schien dies Herz verloren,
Das voller Mitleid war und kindlich unbewußt.
Die ganze Welt war mir ein Garten duft'ger Blumen, (…)
Da riß das Schicksal mich aufs große Welttheater,
In der Tragödie »Krieg« ward mir der Heldenpart"


Die Kindheit des französischen Kaisers und Kriegsherrn Napoleon Bonaparte ist ein weiteres Lehrstück für die destruktiven Folgen erlittener Gewalt. Seine Erziehung war (traditionell auf Korsika) rein Sache der Mutter, sein Vater stand weitgehend außen vor und war eh oftmals abwesend. Napoleons Mutter strafte ihren Sohn regelmäßig mit körperlicher Gewalt. Mit welcher Willkür und Kaltherzigkeit sie ihr Kind strafte, zeigt sich deutlich an folgendem Beispiel: „Eines Abends geht sie mit einer Freundin spazieren, als sie bemerkt, dass Napoleone hinter ihnen hergeht. Erbost darüber, weil er ihnen ohne Erlaubnis nachgegangen ist, versetzt sie ihm eine so kräftige Ohrfeige, dass das Kind umfällt. Es weint und reibt sich die Augen. Sie aber kümmert sich nicht darum und setzt mit ihrer Freundin den Weg fort.“(Widl, 1992, S. 30) Widl (1992) berichtet auch kurz von psychischer Gewalt; die Mutter ignorierte ihren Sohn z.B. einmal einen ganzen Tag lang zur Strafe und warf ihm böse Blicke zu (abends wurde er dann wieder verprügelt), ein anderes mal - da war er fünf Jahre alt - gab ihn die Mutter, „um seinen wilden Sinn zu zähmen“, kurze Zeit in eine Mädchenschule, eine erneute Demütigung. Napoleon hat zeit seines Lebens seine (destruktive) Mutter stark idealisiert („Ihre Liebe zu mir ist erhaben.“), was vor dem o.g. Hintergrund für eine starke Identifikation mit dem Aggressor spricht.
Auch Johannes Willms bestätigt die körperliche Gewalt der Mutter. Er schreibt, dass entscheidend für Napoleons frühe Erziehung „das strenge Regiment der Mutter, die den früh ausgeprägten eigenen Willen ihres Zweitgeborenen durch häufige Züchtigungen zu brechen suchte“ war. (Willms, 2009, S. 13) Willms schreibt, dass die Ehe beider Eltern nicht von Liebe geprägt, sondern eine Vernuftsehe war. Letizia Ramolino – Napoleons Mutter -, gebar insgesamt dreizehn Kinder, wovon allerdings nur acht überlebten. (vgl. ebd.) Alleine dieser Tod von fünf Kindern muss einen langen Schatten auf die Familie geworfen haben. In Anbetracht des destruktiven Charakters dieser Mutter mag man an dieser Stelle spekulieren, ob der Tod einiger der Kinder vielleicht mit ihrem Verhalten in Zusammenhang stand. Der eigentlich erstgeborene Sohn starb 1765 im Jahr seiner Geburt und war auch schon auf den Namen Napoleon getauft. Das zweite Kind, ein Mädchen, starb ebenfalls im Säuglingsalter. Erst das dritte Kind, Joseph, überlebte. Der dann Zweitgeborene erhielt erneut den Namen des verstobenen ersten Kindes: Napoleon.
Im Alter von neun Jahren (!) verlässt Napoleon dann auf Wunsch der Eltern das Heim, um zur Erziehung nach Frankreich zu gehen. Im Alter von elf Jahren wurde er auf eine französische Kadettenschule geschickt. Auf Grund seiner geringen Größe und seiner korsischen Abstammung wurde er dort derart stark diskriminiert und gedemütigt, dass er eines Tages verheißungsvoll sagte: „Wartet nur, wenn ich groß bin! Alles Böse will ich dann euch Franzosen antun.“(Widl, 1992, S. 36) Auch Willms schreibt, dass für den neunjähren Napoleon nach Antritt seiner (militärischen) Schulbildung fern ab der Heimat „ein Leidensweg begann, dessen Härte er noch in der Verbannung auf Sankt Helena lebhaft beschwor.“ (Willms, 2009, S. 14)
Im Alter von vierzehn Jahren schreibt Napoleon einen verzweifelten, wohl auch die Eltern anklagenden Brief (dessen Inhalt aus der verwendeten Quelle nicht hervorgeht) aus der Militärschule. Seine Mutter antwortet ihm am 02.06.1784: (…) wenn ich jemals noch einen ähnlichen Brief von Dir erhalten sollte, werde ich mich nicht mehr mit Napoleon abgeben. Wann hast Du, junger Mensch, je gehört, dass ein Sohn, in welcher Lage er sich auch befinden möge, so an seinen Vater schreibt, wie Du es getan hast? Du kannst dem Himmel danken, dass der Vater nicht zu Hause gewesen ist. Wenn er Deinen Brief gelesen hätte, dann wäre er, nach einer solchen Beleidigung, augenblicklich nach Brienne gereist, um den frechen und strafbaren Sohn zu züchtigen. (…)“ (Pilgrim, 1990, S. 79f) Trotz der „ungehörigen Bemerkungen“ und „ausgestoßenen Drohungen“ überweist die Mutter dem Sohn Geld, der sich wohl in finanzieller, wie auch emotionaler Not befindet (wir erinnern uns, Napoleon wurde in der Militärschule schwer gedemütigt). Ihr Brief zeigt zwei Dinge. Erstens, wie schnell sie jederzeit bereit ist, ihren Sohn zu verstoßen, sobald er gegen ihren Willen agiert. Zweitens, auch der Vater, über den man sonst kaum etwas erfährt und der stets abwesend ist, scheint seine Kinder geschlagen zu haben bzw. jederzeit dazu bereit gewesen zu sein, so es denn Anlass dazu gab. Napoleon war gerade einmal 15 Jahre alt, da traf ihn der nächste Schicksalsschlag, sein Vater starb an Magenkrebs.
Schon als Kind fiel Napoleon nach Neumayr (1995) durch seine aufbrausende Art, seinen Jähzorn, seine Grobheit und bisweilen auch durch Brutalität auf. Ein ehemaliger Mitschüler Napoleons berichtet über ihn: „Immer lag etwas Bitteres in seinen Worten, sein Wesen hatte nichts Liebevolles (...).“ (Neumayr, 1995, S. 17) Schon seine Jugendjahre waren zudem geprägt von Lebensmüdigkeit und depressiven Verstimmungen „Was soll ich in der Welt? Da ich doch einmal sterben muss, könnte ich mich dann nicht jetzt schon umbringen?“ und „Das Leben ist mir zur Last, ich habe keinen Genuss, alles wird Schmerz.“ (ebd., S. 18+19) An dieser Stelle wird deutlich, wie viel Wahrheit in dem Satz „Glückliche Menschen fangen keine Kriege an.“ (deMause, 2005, S. 109) steckt, diesen Satz habe ich über dem Inhaltsverzeichnis dem Gesamttext einleitend vorangestellt.
Als Erwachsener prägte Napoleon schließlich entscheidend die Entwicklungen in Europa und ging vor allem auf Grund seiner Feldzüge und Kriege in die Geschichte ein. Mit dem Namen Napoleon verbindet man auch einen ausgeprägten Größenwahn, Narzissmus und Minderwertigkeitskomplex.

Der faschistische Diktator Italiens, Benito Mussolini, hatte - wie so viele andere Diktatoren auch – ebenfalls eine traurige Kindheit. Zu Hause musste er unter strenger väterlicher Aufsicht in der Schmiede arbeiten und erhielt Schläge, sobald er unachtsam schien oder sich ablenken ließ. Der Vater erzog ihn kompromisslos und „lehrte ihn auch den Hass gegen Monarchie, Kirche und Gesellschaft“ (Kirkpatrick, 1965, S. 17) Benos (2011, S. 95) schreibt: "Der Vater hielt Prügel für das beste Erziehungsmittel und hatte seinen Sohn mit dem Gurt häufig grün und blau geschlagen." Mussolinis Mutter hegte ihrerseits ehrgeizige Pläne für ihre Kinder, die sie unbedingt in höhere Gesellschaftsschichten aufsteigen sehen wollte. Mussolini idealisierte seine Mutter stark, sagte aber auch im gleichen Atemzug: „(...) Ich kannte nur eine Angst: Irgend etwas zu tun, was ihr missfallen könnte.“ (Kirkpatrick, 1965, S. 17) Im Alter von neun Jahren wurde Benito von seinen Eltern schließlich gegen seinen Willen auf ein kirchliches Internat geschickt (vor allem dem egoistischen Willen der Mutter nach), in dem er ein Außenseiter war, regelmäßig unter Arrest stand und Prügel durch die Lehrer bezog. Er selbst empfand das Internat als eine Strafe. Mussolini fiel seinerseits schon als Junge durch Jähzorn, Zynismus und häufige, schwere Prügeleien mit Mitschülern auf. Bei einer Auseinandersetzung stach er sogar mit einem Messer einen Mitschüler nieder. Mit achtzehn Jahren ging er letztlich von einer anderen Schule ab und Kirkpatrick schreibt verhängnisvoll, verheißungsvoll: „Mit dem Diplom in der Hand, warf er aufatmend die Fesseln seiner Kindheit ab und rüstete sich, der Welt die Stirn zu bieten.“ (ebd., S. 23)

Die Kindheit von Spaniens Diktator Francisco Franco ist ebenfalls ein Lehrstück dafür, wie missachtete Kinder sich später an der Gesellschaft rächen können. Francisco Franco entstammte einer Familie mit langer militärischer Tradition, schon der Großvater war ein hochrangiger Militär. Sein Vater - Nicolás Franco – war ein Marineoffizier, der sich auch zu Hause wie „ein General aufführte“, autoritär und tyrannisch war. (vgl. Preston, 1995, S. 3ff) Seine Kinder und auch seine Frau wurden oft Opfer seiner Wutausbrüche. Seine Tochter berichtete später, dass er seine Söhne schlug, hielt sich aber über das Ausmass der Gewalt bedeckt. Zu Hause war der Vater oft abwesend, traf sich außerhalb zum Kartenspielen, für Trinkgelage und mit anderen Frauen. Besonders sein zweitgeborener Sohn Francisco war Ziel seiner Ablehnung. Der dünne, schweigsame Junge enttäuschte seit frühester Kindheit die Vorstellungen des Vaters. Auf ihn angesprochen sprach er zuerst von seinem Sohn Nicolas, manchmal auch von Ramon, Francisco war nur „mein anderer Sohn“. (ebd.)
Don Nicolas verachtete seinen zweiten Sohn auch noch, als der den Bürgerkrieg gewonnen hatte: "Paquito als Staatschef! Paquito als Caudillo! Dass ich nicht lache!" (DER SPIEGEL, 14.12.1992)
Francos Mutter war vor allem bemüht, die religiös-bürgerliche Fassade nach Außen aufrecht zu erhalten und ihr Unglück zu verdecken. Nach dem krankheitsbedingten Tod ihrer kleinen Tochter Paz im Jahr 1903 war sie zudem am Boden zerstört. (Über die Auswirkungen dieser Tragödie auf die anderen Familienmitglieder wird in den Quellen nichts beschrieben) Alle Schilderungen von dem Biografen Paul Preston und auch vom SPIEGEL deuten darauf hin, dass der kleine Francisco seine Mutter trösten und stützen musste. Er begleitete seine Mutter Pilar täglich zur Kirche, wo sie Trost im Gebet suchte. Als ihr Ehemann die Familie im Jahr 1907 – da war Francisco 14 Jahre alt – endgültig verließ, trug sie ab sofort nur noch schwarze Kleider. Es scheint so, schreibt Preston, dass dieser Aufbau eines Schutzschildes vor dem Unglück seiner Mutter auf Kosten der emotionalen Entwicklung von Francisco ging und er eine kalte, innere Leere ausbildete. (vgl. Preston, 1995, S. 4) Francisco war ein einsames, unglückliches und in sich gekehrtes Kind, das zudem älter schien, als es eigentlich war. Er war brav und folgsam.
Die Schilderungen über seine Mutterbeziehung lassen letztlich den Schluss zu, dass er emotional von dieser missbraucht und als Trostpflaster gebraucht wurde. Als Person mit eigenen Bedürfnissen scheint er nicht gesehen worden zu sein. Die Mutter hatte ihren Kindern außerdem – trotz oder gerade wegen dieser Verhältnisse - den eisernen Willen eingepflanzt "aufzusteigen, Ruhm zu erlangen, und sei es unter höchsten Opfern und Anstrengungen", schreibt DER SPIEGEL.
Die Anerkennung seines Vaters konnte Francisco nie erreichen. Gleichzeitig idealisierte er diesen, kreierte das Bild eines Helden, bestritt später, dass es Probleme zwischen seinem Vater und seiner Mutter und auch den Kindern gegeben hatte und ließ seinen Vater nach dessen Tod prachtvoll beerdigen. (vgl. Preston, 1995, S. 5)
Vaterersatz und Selbstbestätigung suchte Francisco beim Militär, wo er mit vollem Einsatz in jungen Jahren begann. Auch hier erlebte er allerdings zunächst Demütigungen auf Grund seiner kleinen Größe und wurde auch das Ziel von grausamen Initiationsritualen durch seine Kameraden, auf die er mit Gewalt reagierte. (vgl. Preston, 1995, S. 9ff) Spott hatte er auch schon als Kind von Spielkameraden und seinen Geschwistern erfahren, die den schmächtigen, kränkelnden Jungen "cerillita" (Zündhölzchen) nannten.
Aus diesem Jungen wurde später der große General und Diktator Spaniens (El Caudillo - der „Anführer“). Im Militär hatte er sich schnell nach oben gearbeitet und nach dem Bürgerkrieg die Macht übernommen. Mindestens 30.000 politische Gefangene wurden unter Francos Regime zwischen 1939 und 1945 hingerichtet, schreibt DER SPIEGEL. Über eine Viertelmillion Republikaner wurde eingekerkert und gefoltert, eine halbe Million musste ins Exil fliehen. Noch 1946 befand Franco: "Es gibt keine Erlösung ohne Blut." Todesurteile unterzeichnete er, "ohne dass mir die Hand zitterte". (vgl. DER SPIEGEL, 14.12.1992)


Über den Vater des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu wird berichtet, dass er sein weniges Geld im Wirtshaus vertrank, statt seine Kinder zu ernähren (insgesamt hatte er 10 Kinder, wovon eines früh starb) und dass er seine Kinder täglich „zu ihrem Besten“ schlug. Die Mutter achtete streng auf die schulischen Leistungen der Kinder, die sie ebenfalls ausgiebig prügelte. (vgl. Miller, 1990, S. 115) Alice Miller analysiert in ihrem Beitrag u.a. den Wahn des Diktators Ceauşescu, der sein Volk zu einem Überfluss an Kindern zwang, die nicht ernährt und gewärmt werden konnten. „Der Tyrann hat sich für sein persönliches Schicksal stellvertretend an Tausenden Müttern, Vätern und Geschwistern gerächt. Indem er sich weigerte, sich mit seinem Schicksal zu konfrontieren, seine Geschichte und seine Gefühle von damals total verdrängt hielt, brachte er ein ganzes Volk an den Rand des Untergangs. Ceauşescu hat nicht nur die rumänischen Kinder in die gleiche Not getrieben, die einst die seine war: Lieblosigkeit, Hunger, Kälte, ständige Kontrolle und die allgegenwärtige Heuchelei. (...) Er wollte Millionen Frauen dazu zwingen, Mütter zu werden, um ja niemals fühlen zu müssen, was er als Kind verdrängte: dass er seiner Mutter nur eine Last war und dass seine Existenz nachweisbar von ihr vergessen wurde.“ (ebd., S. 120)
Ceauşescu ging während seiner Amtszeit insbesondere mit Hilfe seiner Geheimpolizei Securitate grausam und brutal gegen das eigene Volk und politische Gegner vor. Schätzungsweise 10.000 Menschen hat die Securitate während dieser Zeit ohne Prozess hingerichtet und anschließend anonym verscharrt. (vgl. SPIEGEL-Online, 13.10.2009)

Auch auf der anderen Seite der Welt finden sich solche Zusammenhänge. Über den chinesischen Diktator Mao Zedong - chin. = Mao Tse-tung - (der für 70 Millionen Tote in Friedenszeiten verantwortlich war) wird berichtet, dass sein Vater ihn schlug und ihn „faul und nutzlos“ nannte. (vgl. Chang / Halliday, 2005) Der enorme Hass, den Mao als Folge dieser erlittenen Gewalt für seinen Vater empfand, wird durch folgendes Zitat deutlich: „Als er 1968 Rache an seinen politischen Widersachern nahm, sagte er den Kommandanten der Roten Garden, er hätte es gerne gesehen, wenn auch sein Vater so brutal misshandelt worden wäre: «Mein Vater war schlecht. Wenn er noch am Leben wäre, sollte man mit ihm "das Flugzeug" machen» - eine qualvolle Haltung, bei der die Arme des Opfers hinter seinem Rücken verrenkt wurden und der Kopf nach unten gedrückt wurde.“ (ebd., S. 21) An Hand dieses Zitates wird – wie ich finde - erschreckend „lehrbuchartig“ deutlich, wie Mao sein Volk stellvertretend für seinen Vater tyrannisierte.
Maos Vater verlangte offensichtlich – das wird an einer von Mao berichteten Szene deutlich - oftmals als Zeichen der Unterwerfung den Koutou, bei der es heißt, auf beide Knie zu sinken und den Kopf auf die Erde zu schlagen. Mao schildert später eine Szene, wo er vor den Beleidigungen seines Vaters vor Gästen des Hauses wütend nach draußen lief. Der Vater verfolgte ihn. Mao drohte ihm, in einen Teich zu springen, falls er näher kommen würde (also wohl mit Selbstmord). Der Vater verlangte den Koutou. Er, Mao hatte sich dann bereit erklärt, den Koutou nur auf einem Knie zu vollziehen, wenn im Gegenzug der Vater ihn nicht schlage. Wie Mao stolz berichtete, endete somit der Krieg zwischen ihm und seinem Vater durch diese offene Rebellion. Mao selbst sagte im gleichen Atemzug, dass er vorher um so mehr geschlagen wurde, wenn er sich bescheiden und unterwürfig gezeigt hatte. (vgl. Adolphi, 2009, S. 23ff) Hier wird das ganze Ausmaß der väterlichen Gewalt deutlich. Je hilfloser sich Mao zeigte, desto mehr wurde er geschlagen. Dies zeigt, meine ich, deutlich den Sadismus von Maos Vater. Adolphi schreibt auch, dass Mao häufig Prügel bezog und seinen Vater sehr abweisend und feindselig beschrieb. (ebd., S. 26)
Auch zwischen Maos Eltern wird es oftmals erhebliche Konflikte gegeben haben. Seine Mutter war streng gläubige Buddhistin, während sein Vater sich zu den Skeptikern zählte. Mao stand zwischen den beiden, sympathisierte allerdings mehr mit den Ansichten seiner Mutter, die er sehr verehrte und nur positiv von ihr berichtete. (vgl. Spence, 2003, S. 20ff, auch Adolphi, 2009, S. 24ff ) In den verwendeten Quellen finden sich allerdings keinerlei Hinweise darauf, dass seine Mutter ihm in irgendeiner Weise helfend und schützend gegen den gewalttätigen Vater zur Seite stand. In der damaligen chinesischen Kultur war die bedingungslose Unterordnung unter den Vater auch etwas, was allgemein akzeptiert wurde, sicherlich auch von Maos Mutter. Was fühlt ein Kind gegenüber der Mutter, wenn es vor ihren Augen und mit ihrem Wissen vom Vater ständig schwer verprügelt wird, ohne dass eingegriffen wird? Vielleicht Verrat, Hass, Wut, Ohnmacht? Wie passt dies mit Maos späterer Verehrung seiner Mutter zusammen? Mao fand in seiner Mutter ganz offensichtlich keinen helfenden Zeugen, das kann hier festgehalten werden.

Bereits mit sechs Jahren musste Mao auf dem elterlichen Hof mitarbeiten, besuchte aber auch eine Schule, in der „auch der Lehrer reichlich Prügel austeilt“. (Adolphi, 2009, S. 27) Im Alter von dreizehn Jahren verließ Mao - wie die meisten Jungen in China – die Schule und musste fortan die volle Arbeit eines Erwachsenen am Hof seines Vaters tun. Mit vierzehn wurde er zwangsverheiratet, seine Braut war achtzehn. (vgl. Spence, 2003, S. 22) Seine Ehefrau starb allerdings nach ca. zwei oder drei Jahren des Zusammenlebens. Im Alter von ca. siebzehn Jahren besuchte Mao dann wieder eine neue Schule in Xiangxiang. Mao wurde dort allerdings wegen seiner ländlichen Kleidung und seiner ärmlichen Herkunft verachtet und als Außenseiter behandelt. (vgl. ebd., S. 26)
Als junger Mann entwickelte Mao „eine Bewunderung für starke Männer wie Napoleon oder auch den Legalisten Shan Yang, der strenge Gesetze und drakonische Strafen als Form der Regierung befürwortete.“ (vgl. Wemheuer, 2010, S. 23)

Dergleichen Biographien findet man natürlich auch, wenn man noch weiter in die Vergangenheit zurück schaut, am Beispiel vom römischen Kaiser Nero. Dieser wuchs in einer Atmosphäre auf, in der zwischen den Erwachsenen seines Umfeldes Hass, Intrigen, Verrat, Machthunger, (Geschwister-)Inzest und Mord herrschte. (vgl. Waldherr, 2005)
Um Neros Vater ranken sich etliche Geschichten, die ihn als aufbrausend, anmaßend und durchgehend schlechten Menschen erscheinen lassen. So soll er z.B. einen Freigelassen umbringen haben lassen, nachdem dieser sich weigerte, bei einem Trinkgelage so viel zu trinken, wie befohlen. Bei anderer Gelegenheit überfuhr er angeblich absichtlich ein Kind mit seinem Gespann usw. Später wurde er wegen Majestätenverbrechen, mehrfachen Ehebruchs und einer angeblichen inzestuösen Beziehung mit seiner Schwester angeklagt und entkam nur knapp der Verurteilung. (ebd., S. 15)
Neros Mutter, Agrippina, wird als kalt, berechnend und skrupellos beschrieben. (vgl. Herrmann, 2005, S. 21) In ihrer eigenen Biographie sind schwere Schicksalsschläge zu finden. Ihre Mutter hungerte sich zu Tode, nachdem sie vom Kaiser verbannt worden war, da war Agrippina gerade mal vierzehn Jahre alt. Zwei Brüder starben eines unnatürlichen Todes, der dritte stellte ihr nach. (vgl. ebd., S. 22) Und Walherr schreibt dazu: „Man muss kein Psychologe sein, um sich vorstellen zu können, welche Folgen dies für die charakterliche Ausbildung der Heranwachsenden haben musste. Rücksichtslosigkeit, Verschlagenheit und brutaler Einsatz aller Mittel waren ihr im politischen Überlebenskampf vorgeführt worden.“ (Waldherr, 2005, S. 20)
Über körperliche und sexuelle Misshandlungen gegen das Kind Nero findet sich nichts bei den verwendeten Quellen, ich meine aber, dass die Profile der Eltern, das damalige Umfeld und die üblichen antiken „Erziehungspraktiken“ hier einiges erahnen lassen. Allerdings wird berichtet, dass Nero als Säugling in feste Tücher gewickelt wurde, „um damit einen späteren ebenmäßigen Wuchs zu gewährleisten und einer möglichen Verkrümmung der Gliedmaßen vorzubeugen.“ (Waldherr, 2005, S. 23) Das feste Wickeln und Binden von Säuglingen ist vor allem von Lloyd deMause (1992, 2005) in seinen Arbeiten immer wieder als eine Quelle inneren Terrors beschrieben worden. Diese schmerzvolle und einengende Prozedur ist auch noch heute in vielen Teilen der Welt zu finden.
Wie in den damaligen aristokratischen Familien üblich, wurde Nero sehr wahrscheinlich auch von einer Amme gestillt und aufgezogen, dadurch war die (so wichtige) Bindung zwischen Mutter und Kind nicht besonders eng. (vgl. Waldherr, 2005, S. 39) Als Kleinkind musste Nero dann auch die räumliche Trennung von seiner Mutter erleben, als diese in Ungnade fiel und einige Zeit in die Verbannung geschickt wurde. Im Alter von drei Jahren erlebte er dann den Tod des Vaters und kam schließlich zur Pflege für mehrere Monate zu einer Tante. Diese verband mit Neros Mutter eine tiefe Feindschaft und beide buhlten darum, bei dem kleinen Nero den Vorrang zu haben. Die Beziehung zur Tante wird wohl eher schlecht gewesen sein, denn Nero billigte Jahre später ihre - durch seine Mutter angezettelte - Verurteilung zum Tode und sagte sogar als Zeuge gegen sie aus. (ebd., S. 39ff) Über Neros Mutter wird weiter berichtet, dass sie stets großes mit ihm vorhatte und ihn zum Kaiser machen wollte. Die Berichte enthüllen eine rein zweckmäßige Bindung an ihren Sohn, von Gefühlen ist keine Rede. Wie blindwütig und tief ihr Wunsch nach dieser Machtposition für ihren Sohn war, zeigt eine Reaktion von ihr auf die Prophezeiung eines Astrologen, dass das Kind später herrschen, aber sie töten würde: „Soll er mich töten, wenn er nur herrscht.“ (ebd, S. 24) Und so kam es dann auch, Nero wurde Kaiser und ließ später seine Mutter umbringen. Das wenige, was wir über Neros Kindheit wissen, reicht - denke ich - aus, um von einer sehr traumatischen Kindheit sprechen zu können. Nero blieb in der Geschichtsschreibung besonders durch seinen manischen Charakter (viele Autoren der Nachwelt stellten ihn auch als größenwahnsinnigen Tyrannen dar), seine Familienmorde, die grausamen Hinrichtungswellen - insbesondere nach dem großen Brand in Rom - gegen die Christen und durch seine verträumte Liebe zu Kunst und Theater in Erinnerung (er selbst trat als Schauspieler und Sänger auf).
  
Aus der jüngeren Geschichte gibt es ebenfalls anschauliche Beispiele, so z.B. aus dem ehemaligen Jugoslawien: Der politische Serbenführer Slobodan Milosevic war offenbar laut Wirth (2006) ein seelisch schwer traumatisierter Mensch. Seine Lebensgeschichte ist durch einschneidende Verlusterlebnisse und ein hohes Maß an Destruktivität gekennzeichnet. Milosevic wuchs - mit Wirths Worten .- in einer funktionsgestörten und psychopathologischen Familie auf. Sein Vater verließ früh die Familie; er erschoss sich 1962 und blieb ein „Schwarzes Loch in Milosevics Biographie“. Milosevics Mutter war hart, despotisch, unduldsam, Besitz ergreifend und psychisch überlastet. Milosevic scheint frühzeitig Erwachsenenfunktionen übernommen zu haben und wurde von der Mutter zum „Retter der Familie“ verklärt bzw. von dieser als Pseudo-Erwachsener seelisch gebraucht und ausgenutzt. Der Lieblingsonkel hatte sich bereits Jahre vor dem eigenen Vater - da war Milosevic sieben Jahre alt - erschossen. Als Slobodan 31 Jahre alt war, folgte der nächste Schicksalsschlag, seine Mutter erhängte sich an der Schlafzimmerlampe. (vgl. Wirth, 2006, S. 284ff) “Slobodan Milosevic ist sein ganzes Leben lang nie aus dem Schatten seiner destruktiven Elternfiguren herausgetreten.” (ebd., S. 286) Wirth bezeichnet Milosevic in seiner Analyse als narzisstisch gestörte Persönlichkeit und vermutet genau genommen auch eine Borderline-Störung. (vgl. zu dieser Störung Dulz / Scheider, 2001). Slobodan Milosevic wurde in Den Haag auf Grund verschiedener Kriegsverbrechen und wegen Völkermord angeklagt, verstarb allerdings bevor der Prozess zu Ende ging.

Auch der irakische Diktator Saddam Hussein hatte laut deMause (2005) „eine unglaublich traumatische Kindheit“. „Seine Mutter versuchte ihn abzutreiben, indem sie mit den Fäusten gegen ihren Unterleib schlug, sich mit einem Küchenmesser schnitt und dabei schrie: „In meinem Bauch trage ich einen Satan!“ „ (deMause, 2005, S. 29) Saddam verlor früh den Vater, wobei die Umstände dessen Verschwindens im Dunkeln bleiben. Zur Vaterfigur wurde ein Onkel mütterlicherseits – Khairallah Tulfah -, bei dem Saddam unterkam und den er bewunderte. Dieser Onkel wird von Coughlin (2002) als „streitsüchtiger und launischer Mensch“ und als „unbelehrbarer Bewunderer Adolf Hitlers und des Nationalsozialismus“ beschrieben. (vgl. Coughlin, 2002, S. 46) DeMause schreibt, dass Saddam regelmäßig von diesem Onkel geschlagen wurde, dieser ihn den „Sohn eines Köters“ nannte und er Saddam beibrachte, wie man eine Waffe gebraucht. (vgl. deMause, 2005, S. 29) Khairallah kam schließlich für seine Naziverehrung ins Gefängnis und der junge Saddam musste wieder bei seiner Mutter leben, die mittlerweile einen neuen Mann gefunden hatte. Willkommen geheißen wurde er nicht und er scheint in seinem zu Hause „sträflich vernachlässigt worden zu sein“. Der neue Stiefvater war zudem brutal. Er „(...) verpasste dem kleinen Jungen gern eine Tracht Prügel mit einem mit Asphalt überzogenen Stock.“ (Coughlin, 2002, S. 48) Saddam Hussein vertraute dem offiziellen Biographen Iskander an, dass er niemals jung und unbeschwert war, sondern stets ein eher trauriges Kind, das sich von den anderen fern hielt. Coughlin spekuliert auch über einen möglichen sexuellen Missbrauch Saddams durch den Stiefvater. (vgl. ebd.) Da Saddam vaterlos und ein Außenseiter war, wurde er zusätzlich gnadenlos von den anderen Kindern des Dorfes gehänselt und oft auch verprügelt. „Er wurde so schlimm drangsaliert, dass er sich angewöhnte, zur Verteidigung einen Eisenstab mitzunehmen, wenn er sich aus dem Haus wagte.“ (ebd., S. 49)
Saddam Hussein vergötterte seine Mutter (die nebenbei bemerkt auf keinem erhaltenden Foto lächelte, sondern eher finster dreinblickte) bis zu ihrem Tode, worüber sich der Biograph Coughlin „angesichts der Erniedrigungen“ sehr wundert. (Anmerkung: Wenn man sich die Fakten anschaut, erscheint Saddams Bezeichnung für den ersten Golfkrieg als "Mutter aller Schlachten" in einem ganz anderen Licht...) Ebenso verehrte er seinen (gewalttätigen) Onkel, den er später zum Bürgermeister von Bagdad machte. Hier findet sich erneut eine starke Identifikation mit den Aggressoren.
Saddam Hussein verübte nach deMause seinen ersten Mord im Alter von 11 Jahren... (vgl. deMause, 2005, S. 29)

Solche Beispiele finden sich natürlich auch in westlichen Demokratien. DeMause schreibt, dass die Kindheit vom amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan „ein Alptraum von Vernachlässigung und Missbrauch“ war. (deMause, 2005, S. 19)
Ronald Reagans Vater war ein gewalttätiger Mann und Alkoholiker. Er trat den jungen Ronald mit seinem Stiefel und pflegte ihn und seinen Bruder des Öfteren zu "verkloppen". Der Vater wurde später von seinem Sohn beschrieben als jemand, der „ein Leben in fast andauernder Wut und Frustration“ geführt habe. Selbst aus den wenigen Erinnerungen in den verstreuten Äußerungen über seinen Vater wird deutlich, dass Ronalds Verhältnis zu ihm angefüllt war von Augenblicken des Terrors und gleichzeitig einem Verlangen nach Nähe. (vgl. deMause, 1984, S. 59)
Der Alkoholismus seines Vaters war auch der Hauptgrund für häufige Orts- und Stellungswechsel, die Familie zieht ständig um, mitunter schlafen sie alle im Auto. Wochenlang geht Ronalds Vater auf Zechtour, der Junge erinnert sich an seine Ängste während der Abwesenheit des Vaters und die dann folgenden "lauten Stimmen in der Nacht". Als Elfjähriger kommt er einmal nach Hause und findet seinen Vater "sinnlos betrunken auf dem Rücken liegend auf der Veranda". Er muss diesen großen, schnarchenden Koloss ins Bett verfrachten. Im Rückblick bezeichnet Reagan seine Kindheit als "eine jener seltenen Huckleberry-Finn-Tom-Sawyer-Idyllen“. Die Schattenseiten schien er vollkommen verdrängt zu haben. (vgl. DER SPIEGEL, 26.10.1981) Seine Autobiographie nannte Reagan übrigens „Wo ist der Rest von mir?“ (Where's the Rest of Me?), um, wie er in der Einleitung sagte, anzuzeigen, dass er den größten Teil seines Lebens mit dem Gefühl verbracht hatte, es fehle ihm etwas, ein Teil von ihm. (vgl. deMause, 1984, S. 55) Diese Zerrissenheit, inneres Fremdsein und das Gefühl „nicht ganz zu sein“ ist typisch für traumatisierte Kinder. (Im weiteren Textverlauf wird Arno Gruen dazu noch zu Wort kommen)
Das Resultat war laut deMause eine Kindheit der Phobien und Ängste bis zum Grad der Hysterie und verschüttete Gefühle der Wut. „Als Erwachsener fand Ronald Reagan Gefallen daran, eine geladene Pistole zu tragen, er zog auch Selbstmord in Erwägung, wurde davon nur durch das defensive Manöver abgehalten, in die Politik zu gehen und ein Anti-Kommunisten-Krieger (pers. Anmerk.: Die Sowjetunion war für Reagan das "Reich des Bösen") zu werden, gegen imaginäre „Feinde“ ins Feld zu ziehen, die er für die Gefühle, welche er in sich selbst verleugnete, verfolgte.“ (deMause, 2005, S. 19)
Volker Elis Pilgrim hat Reagans destruktive Politik und Einstellung deutlich zusammengefasst: „Sein Blut- und Bombentemperament kam immer wieder zum Ausdruck: Raketenstationierung in Europa, Einmarsch in Grenada, Infiltration in Nicaragua, Unterstützung aller reaktionären Staatsmänner der Welt, Bombardierung Tripolis, Vorbereitung zum Krieg der Sterne. Reagan war vom gewinnbaren Atomkrieg überzeugt. Die USA müssten nur den „Erstschlag“ unternehmen. (…) Berühmt wurden seine Sätze vor einer Rundfunkansprache 1984, die nur für das Team gedacht waren und zufällig festgehalten wurden: „Amerikanische Mitbürger! Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass ich heute ein Gesetz zur endgültigen Auslöschung Russlands unterzeichnet habe. Das Bombardement beginnt in fünf Minuten.“ " (Pilgrim, 1990, S. 289)

Auch der Präsidentschaftsstil von George H. W. Bush (Vater von Präsident George W. Bush und ehemals Vizepräsident unter Ronald Reagan) war stark von seiner Kindheit bestimmt, die voller Angst und körperlichen Bestrafungen war. (vgl. deMause, 2005, S. 20ff) Georges Bruder, Prescott Jr., sagte über den gemeinsamen Vater: "Er legte uns übers Knie und prügelte uns mit seinem Gürtel durch. (...) Er hatte einen starken Arm, und Junge, haben wir das gespürt. (...) Wir hatten alle Angst vor ihm. Als wir jung waren, hatten wir alle Todesängste vor Dad.“ (zit. nach ebd., S. 20) George selbst gestand einmal: "Dad war richtig unheimlich." (ebd.) George H. W. Bush befahl während seiner Amtszeit den Krieg gegen den mittelamerikanischen Staat Panama und gegen den Irak.

George H. W. Bush Senior gab seinerseits an seinen Sohn George W. Bush weiter, was er selbst erlebt hatte, indem er körperliche Gewalt anwandte. (vgl. Gruen, 2004) Er galt außerdem als distanzierter und chronisch abwesender Vater. (vgl. Frank, 2004, S. 23 + 36ff) Zudem wird berichtete, dass Bush Junior die Rolle des „dienenden Retters“ seiner depressiven Mutter zugeschrieben bekam. (vgl. Gruen, 2004) Frank (2004) beschreibt die Mutter, Barbara Bush, als kalte Erzieherin, die in der Familie für Zucht und Ordnung sorgte und von ihren Kindern „die Vollstreckerin“ genannt wurde. Auch sie übte körperliche Gewalt gegen die Kinder aus, so wie sie es selbst einst als Kind in ihrer Herkunftsfamilie erlebt hatte. Bei Barbara Bush stellt Frank auch eine gespaltene Weltanschauung in „Gut“ und „Böse“ fest, die ganz offenkundig auch bei ihrem Sohn zu finden ist.
Im Alter von sechs Jahren erlebte George W. ein weiteres Trauma, nämlich Krankheit und Tod seiner kleinen Schwester Robin. Im Jahr 1953 wurde Leukämie bei Robin festgestellt. Barbara Bush blieb daraufhin monatelang in New York, um Robin bei ihrer Krebstherapie zu unterstützen. George und das Baby Jeb wurden zunächst bei Nachbarn untergebracht, später wurde dann eine Haushälterin eingestellt und die Kinder kehrten zumindest ins vertraute eigene Haus zurück. (vgl. Auchter, 2007, S. 8ff) George musste sich verlassen gefühlt haben (Wir erinnern uns, der Vater war eh stets abwesend). Er wurde außerdem nicht über die Krankheit seiner Schwester aufgeklärt. Als die Schwester schließlich starb, fuhren die Eltern einen Tag später zu Babara Bushs Vater und spielten Golf. (ebd.) Eine Trauerfeier für Robin fand nicht statt.
Diese Tragödie wurde in der Familie Bush - schreibt Frank, 2004, S. 21-37 -, in der eh der Ausdruck gerade von schmerzlichen Gefühlen unerwünscht war, nicht offen betrauert und besprochen und letztlich nie wirklich verarbeitet.
Welch eine Ironie, schreibt Frank, „(...) dass dieses Kind als Erwachsener ausgerechnet zu dem Zeitpunkt Präsident ist, als seine Nation den Moment ihrer größten Trauer erlebt – die Zeit der tiefen Erschütterung nach dem 11. September 2001.“ (Frank, 2004, S. 35ff) So wich George W. Bush - nach Frank - der Trauer aus, schien unfähig, öffentlich Trauer zu zeigen und lief geradewegs zur Wut und zur Rache über...
Arno Gruen schreibt über diese Eltern-Kind-Beziehung in der Familie Bush. „Genau so sieht eine Beziehung aus, die Kinder früh zu Marionetten macht, sie ihrer eigenen Selbstberechtigung beraubt, sie mit Verachtung für sich und ihre Welt zurechthämmert. Hier liegt die Quelle für das Verhalten solcher Menschen, die uns dann alle durch ihr Spiel mit dem Leben ins Verderben treiben.“ (Gruen, 2004)
George W. Bush sagte übrigens einmal: "Wenn wir eine Diktatur hätten, wäre alles weiß Gott viel einfacher, solange ich der Diktator bin.“ (Auchter, 2007, S. 12)

Nachfolgend werde ich die beiden Paradebeispiele Adolf Hitler und Stalin bzgl. o.g. Zusammenhänge ausführlich darstellen und weiter kommentieren.
Vorher allerdings noch ein Zwischengedanke: Was wir oben über die Kindheit der benannten Personen erfahren haben ist erschreckend. Es ist dabei eigentlich erstaunlich, dass die Gewalt gegen die Kinder überhaupt dokumentiert werden konnte. War und ist doch i.d.R. die Gewalt innerhalb von der Familie ein Tabu und wird von Stillschweigen umhüllt. Ich nehme somit an, dass die geschilderten Details nur ein Auszug dessen sind, was die genannten Personen alles erfahren haben. Meine Erfahrungen mit dem Thema sind, dass die Dinge, die Kindern angetan werden, oft über die Vorstellungskraft eines normalen Menschen hinaus gehen. Es liegt darüber hinaus in der Natur der Sache, dass man über die Ereignisse in den entscheidenden ersten drei Lebensjahren oder speziell in der Säuglingszeit meist nichts erfährt. Es ist kaum vorstellbar, dass misshandelnde Eltern z.B. im ersten Lebensjahr liebevoll zu ihrem Säugling waren und ihn dann erst später schlecht behandelten. Vielmehr können wir annehmen, dass die o.g. Personen auch schon als Säugling Entbehrungen und ggf. die ein oder andere Form von Gewalt erlebt haben. Solch frühe Erfahrungen graben sich tief ein in die Psyche eines Menschen. Wir müssen uns klar machen, dass das Jahr 365 Tage hat. Jährlich waren diese Kinder 365 Tage ihren destruktiven Eltern ausgesetzt! Ich möchte diesen Teil wiederum mit einem Auszug aus der Rede von Astrid Lindgren schließen: „Auch künftige Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben - das ist erschreckend, aber es ist wahr.“(DIE ZEIT, 13.11.2007)





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