Samstag, 29. April 2017

Islamistischer Terror: Nur Untote sprengen sich in die Luft!

In der TV-Dokumentation „Europas Muslime (2/2). Auf Reisen mit Nazan Gökdemir und Hamed Abdel-Samad“ (von Thomas Lauterbach, ZDF, 2016, ausgestrahlt auf Arte TV am 11.04.2017) gibt es ein interessantes Interview mit „Jo Dalton“, wie er sich nennt (realer Name Jérémie Maradas-Nado), zu sehen. Dalton kam mit sechs Jahren aus der Zentralafrikanischen Republik nach Frankreich. In den Vororten von Paris glitt er schnell in die Kriminalität ab und saß mehrfach im Gefängnis. Im Gefängnis traf er auf Islamisten und wurde radikalisiert. Er konnte sich allerdings von deren Einfluss lösen und arbeitet heute präventiv mit Jugendlichen gegen Gewalt und Hass.

Wie weit wäre er bereit gewesen zu gehen, in den Zeiten des Hasses?“ fragt sich die Journalistin Nazan Gökdemir in der Doku. „Wenn ich höre `großer Soldat Gottes`, das macht mir Angst.“ (ca. Minute 23)

Jo Dalton: „Ja, natürlich macht das Angst, weil ich vom Hass besessen war. Weil ich im Loch war. Tiefer als im Gefängnis kann man nicht mehr fallen. Darunter gibt es nur noch den Tod. (…) Ab dem Moment, wo Du das Leben in Dir abtrennst, wirst Du zum lebendigen Toten. Du hast keine Emotionen mehr. Da muss man tun, was zu tun ist.“ (Hervorhebung durch mich)

Gökdemir: „Das heißt?“

Dalton: „Wenn man sich opfern muss, muss man sich opfern, damit das System versteht, dass es keine Macht über Dich hat und es nur Gott gibt. Damals hätte ich es tun können. (…) Wer einmal das Leben abgetrennt hat, sieht niemanden mehr. Nur noch das System. (…) Man muss in die Haut dieser Menschen schlüpfen, um zu verstehen.  Sonst kannst Du diesen Hass nicht nachvollziehen.“ (Hervorhebung durch mich)

Diese Aussage sagt in meinen Augen alles über die eigentlichen Hintergründe von fanatischen Hassern, die Anschläge planen und sich dabei i.d.R. selbst opfern. Diese Menschen, die sich in die Luft sprengen, sind bereits (innerlich) tot, aber körperlich am Leben. Wer nichts fühlt, kann alles erdenkliche an Taten verüben, denn es wird ihn in keiner Weise berühren.  (Der Gefängnispsychiater James Gilligan hat die von ihm untersuchten Mörder in US-Gefängnissen als Untote („living dead“) bezeichnet, was deren Selbstdefinition widerspiegelt. Diese Männer erlebten derart brutale, folterähnliche Misshandlungen und absolute Lieblosigkeit in ihrer Kindheit, dass sie sich "leer", "innerlich tot", wie „Zombies“, „Steine“ oder „Vampire“ fühlten.)

Jo Dalton stammt aus der Zentralafrikanischen Republik, einem Land mit einer der höchsten Raten an Kindesmisshandlung in der Welt. Ich vermute sehr stark, dass er als Kind misshandelt wurde und zwar schwer und häufig. Sein Künstlername „Jo Dalton“ spricht da bereits Bände. Der Name steht in Verbindung zu der Comicfigur „Joe Dalton“ in den Lucky Luke Bänden. Die Comicfigur Joe Dalton ist der hasserfüllte und cholerische Anführer einer kriminellen Brüderband in dem Comic. Er ist aber auch der kleinste der Brüder. „Die größte Schwachstelle Joes stellt seine Mutter dar. Er erträgt es nicht, dass diese das Nesthäkchen Averell ihm vorzieht und auch nicht zögert, Joe, den „gefürchtetsten Banditen des Westens“, übers Knie zu legen.“, steht auf Wikipedia.  Ich denke, dass dies schon sehr viel erzählt über die Kindheitshintergründe von „Jo Dalton“ aus Paris. 

Mittwoch, 26. April 2017

Necla Kelek über die "verlorenen Söhne"

Ich habe heute meinen vorherigen Beitrag über die "Kindheit von Gewalt- und Straftätern" um die qualitative Arbeit von Necla Kelek ergänzt: Kelek, N. (2007). Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes. Wilhelm Goldmann Verlag, München.

In dem Beitrag mache ich sonst immer im Kommentarbereich auf Aktualisierungen und neue Studien aufmerksam. Diese heutige Aktualisierung möchte ich durch einen gesonderten Beitrag nochmals hervorheben. Natürlich ist die Analyse von Kelek nicht auf alle Muslime übertragbar, was sie selbst auch betont. Sie befasst sich ja auch gezielt mit der Sozialisation in der Türkei und nochmals gezielt vor allem mit der Sozialisation von türkischen Männern, die schwere Probleme in ihrem Leben haben. Es ist allerdings sicherlich kaum zu leugnen, dass die Dinge, die Kelek anspricht, so oder so ähnlich und je nach Milieu und muslimischen Kulturkreis oder in abgemilderter oder sogar gesteigerter Form weiterhin existieren und Einfluss auf die islamischen Gesellschaften haben. Diesen Beitrag hier über die Arbeit von Frau Kelek werde ich natürlich auch noch in meinem Text "Islamistischer Terror und Gewalt. Die notwendige Modernisierung der muslimischen Familie" verlinken. Er macht das Bild ziemlich rund, wie ich finde.

Darüber hinaus ist klar, dass diese Art von Sozialisation auch hier bei uns in Deutschland noch nicht lange her ist (man sehe sich z.B. den Film "Das weiße Band - Eine deutsche Kindergeschichte" an) und ihre Schatten warf und wirft.

Hier nun meine Ergänzung des o.g. Textes:


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Der Ansatz von der Autorin Necla Kelek ist bzgl. des Themas „Strafgefangene und deren kindliche Sozialisation und Erfahrungen“ ein besonderer und ich möchte diesen gezielt ans Ende dieses Blogbeitrags setzen.  In ihrem Buch „Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes“ hat sie fünf muslimische, inhaftierte (türkischstämmige) Straftäter ausführlich vorgestellt, mit denen sie zuvor intensive Interviews geführt hat. Den Berichten über die Straftäter hängt sie eine generelle Analyse der traditionellen muslimischen Erziehung an. Man erhält dadurch ein sehr komplexes Bild. Sie berichtet von der Macht der Väter, von kollektiven Familiensystemen, von mittelalterlichen Normen, vom Einfluss des Islam, vom Trauma der Jungenbeschneidung, von destruktiven Ehrvorstellungen, von Kindern die zuschauen, wenn Tieren beim Opferfest die Kehle durchgeschnitten wird usw. und auch von ihren eigenen Kindheitserinnerungen in der Türkei. Ihre Berichte sind – das betont sie – nicht repräsentativ (sie versteht ihren Ansatz als "qualitative Sozialforschung"), zeigen aber einen wichtigen Ausschnitt aus der Wirklichkeit.
Bzgl. dieser speziellen Gruppe der ursprünglich in der Türkei geborenen und hier in Deutschland inhaftierten männlichen Straftäter zeigt sich, dass zu den Erfahrungen von Gewalt und Demütigungen in der Kindheit dieser Männer (was sie mit anderen Straftäter gemein haben) ergänzend ein ganzes „Kultursystem“ betrachtet werden muss, in dem sie aufgewachsen sind.

Individuelle Freiheit und Entfaltung gibt es in diesen quasi "mittelalterlichem" Kultursystem, aus dem diese Täter stammen, nicht. Wie ein Junge und ein Mann zu sein hat und was sein Lebensweg sein wird (und wen er wann heiraten wird), bestimmen die Älteren, Sitten, Bräuche, die Religion, die Großfamilie und die (Dorf-)Gemeinschaft. Hinzu kommt eine strickte Trennung der Lebenswelten von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen, aber auch von Eltern und Kindern. Kelek zitiert einen Mann, der berichtet, dass seine Eltern nichts von ihm wüssten. „Das ist bei den meisten Familien so, nicht nur in meiner. Die Eltern leben für sich, und die Kinder sind auch für sich.“ (Kelek 2007, S 104) Dieser Mann berichtet über seine Familie: „Bei uns (…) spielt der Respekt eine große Rolle. Wenn mein Vater mich besuchen käme, würde ich sofort aufstehen und seine Hände küssen. Wenn er nach Hause kam, standen wir Kinder immer auf, küssten ihm die Hände und verließen den Raum, damit er seine Ruhe hatte. Wir achteten ihn, wir dienten ihm, denn er ist unser Vater.“ (ebd., S. 105)
Necla Kelek berichtet über das Kinderleben in dem anatolischen Dorf ihrer Mutter. „Im Dorf wurden die Kinder nicht betreut. Sie liefen, sobald sie laufen konnten, einfach mit. Die Jungen lernten von den älteren Jungen, was es hieß, ein Junge zu sein. Sie mussten die Schafe, die Gänse hüten oder Besorgungen erledigen. Die Mädchen halfen der Mutter im Haus und lernten durch Zuschauen und Mitmachen. In dieser Welt gab es keine bewusste Erziehung durch Ausbildung und fürsorgliches, erklärendes Beibringen, sondern nur das Prinzip Aneignung durch Nachahmung und Strafe bei Nachlässigkeiten.“ (ebd., S. 118) Strafen waren dann vor allem körperliche Gewalt (auch gegen Kleinkinder) und/oder Ausgrenzung.

Auch die Berichte der Strafgefangen sind voll von Gewalt, Ohnmachtserfahrungen und Gehorsamsforderungen. Kelek fasst an einer Stelle kurz zusammen:
„Die Lebensgeschichten, die ich im Gefängnis gehört habe, erzählen von Vätern, die ihre Söhne mit dem Stock oder mit einem Kabelende schlagen oder ihnen heißes Öl über die Hand gießen – alles Vergeltungsmaßnahmen für verweigerten Gehorsam oder nicht gezollten Respekt.“ (ebd., S. 182+183) Keiner der männlichen muslimischen Gesprächspartner – sowohl Strafgefangene als auch diverse andere -, die alle samt durch ihre Väter bestraft wurden und Gewalt erlebt hatten, machte ihren Väter deswegen Vorwürfe, schreibt Kelek. (ebd., S. 174+175) „Alle ´respektierten` seine Macht bis zur Selbstzerstörung. Der Vater, so scheint es, hat einen gottähnlichen Status, und die Angst, vor ihm zu versagen, ist groß.“ (ebd., S. 175)

Kelek spitzt im hinteren Teil des Buches an einer Stelle zu: „Muslimische Jungen wachsen ohne Liebe auf. In ihrer Sozialisation geht es in erster Linie darum, dieses Leben zu bestehen, Gott zu gehorchen und dafür zu sorgen, dass ihnen gehorcht wird. Es ist eine Welt von Schwarz und Weiß, von Entweder-Oder, von oben und unten. In ihr können keine Gefühle ausgebildet werden (…)“ (ebd., S. 179) Neben dieser Ohnmacht erleben diese Jungen aber auch, dass sie als männliche Wesen mehr wert sind, als Frauen. Gleichzeitig ist ihr Leben ein trauriges. Dies ist in meinen Augen eine unheilvolle Mischung aus Ohnmacht und Gehorsam + Macht und überhöhter Männlichkeit, alles die besten Zutaten für einen gewalttätigen Charakter. Diese Seiten zeigen sich sehr gut an einer Stelle im Buch:
„Die Söhne werden von den Müttern gepampert und verwöhnt und von den Schwestern bedient, mit ihnen spielen, träumen, weinen, lachen – das tut keiner. Das müssen die Jungen mit sich selbst, vielleicht noch mit ihren `Kumpels` abmachen. (…) Die Mutter und die Schwestern sind als Gesprächs- und Gefühlspartner unerreichbar, der Vater wird meist als strafende Instanz oder Herrscher über die Familie erlebt – als Partner seines Sohnes, der dessen Sorgen und Nöte teilt, ihn beschützt oder einfach für ihn da ist, fällt er aus.“ (ebd., S. 179)

Die Autorin berichtet auch über den Umgang mit Säuglingen in dem anatolischen Dorf ihrer Mutter. Die Säuglinge wurden in zwölf Meter lange Tücher so sehr eingewickelt, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten. „Dem Kind wurde, damit es vor dem `bösen Blick` oder auch vor Fliegen geschützt war, ein Tuch über die Augen gelegt. Solche Tücher gehören bei jeder Frau zur Aussteuer. Oft wurde ein Kleinkind ein Jahr lang so mumifiziert, es konnte weder etwas sehen noch sich bewegen. Wenn man das Kind vom Tuch befreite, schüttelte es wie wild den Kopf hin und her, weil das unbekannte Licht grell in den Augen schmerzte.“  (ebd., S. 116) Kelek betont, dass diese Praxis heute auch in Anatolien nicht mehr üblich sei. Man kann sich allerdings vorstellen, dass dieser traumatische Terror gegen das Kind in seinen ersten 12 Lebensmonaten nachhaltig wirkte, sowohl auf die Persönlichkeit der so Terrorisierten, als auch auf deren Umgang mit ihren eigenen Kindern.

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass Kelek auch den Blick auf viele Türken und Türkinnen richtet, die ihre Kinder anders erziehen, „die ihren Kindern die Liebe, Fürsorge und Nähe angedeihen lassen, die den von mir beschrieben Männern fehlt. Sie sollen aufstehen und sagen, wie sie es machen – je mehr es sind, desto besser.“ (ebd., S. 184)

Ich denke, es ist klar geworden, dass die Biografien von Gewalt- und Straftätern sehr stark ausgeleuchtet werden können, wenn Forschende sich auf den Weg dahin machen wollen und ergänzend entsprechende Ressource zur Verfügung gestellt bekommen oder sich beschaffen. Je mehr man erfährt und ausleuchtet, desto mehr versteht man auch die Genese von Gewalt, ohne sie gleichzeitig zu entschuldigen, sondern mit dem einzigen Zweck: Prävention im Hier und Jetzt, bei der heutigen Kindergeneration.