Freitag, 12. Juli 2013

Ägypten. Neue Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder

Ich habe eine weitere Studie (ergänzend zu den bereits vorgelegten Zahlen) zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Ägypten gefunden:

Mostafa A Abolfotouh, Mohamed D El-Bourgy, Amira G Seif El Din, Azza A Mehanna (2009): Corporal punishment: mother's disciplinary behavior and child's psychological profile in Alexandria, Egypt. Journal of Forensic Nursing 01/2009; 5(1):5-17

400 Schulkinder und deren Mütter wurden befragt. Dabei ging es um das Strafverhalten rein der Mütter gegenüber ihren Kindern, die Gewalt der Väter wurde also nicht erfasst. Insgesamt werden 76,3 % der Kinder körperlich bestraft; dabei Jungen mit  85,4% gegenüber Mädchen mit 71,9 % deutlich mehr.

Besonders aufschlussreich an dieser Studie ist, dass die Häufigkeit des Gewalthandelns abgefragt wurde. Die Ergebnisse zeigen ein erschreckendes Bild:
Insgesamt werden 2,8 % der Kinder mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, 3,5% einmal täglich und 39 % ein oder zweimal die Woche. Insgesamt werden also fast die Hälfte der Kinder (45,5 %) regelmäßig und oft geschlagen. Dabei fällt erneut auf, dass Jungen besonders häufig von Gewalt betroffen sind. 5,4 % der Jungen werden mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, dagegen 1,5 % der Mädchen; 4,6 % der Jungen werden einmal täglich geschlagen, dagegen 3 % der Mädchen;  55,4 % der Jungen werden ein oder zweimal die Woche geschlagen, dagegen 31,1 % der Mädchen.

Deutliche Spuren/Verletzungen als Folge der Gewalt waren bei 3 % aller Kinder sichtbar (2,3 %  bei den Jungen und 3,3 % bei den Mädchen). Leichte Spuren/Verletzungen waren bei 11,3 % aller Kinder sichtbar (16,2  %  bei den Jungen und 8,9 % bei den Mädchen).
Diese Zahlen müssen kritisch hinterfragt werden. Aussagefreudig waren die Mütter ganz offensichtlich bzgl. ihres Gewaltverhaltens. Das verwundert nicht, da in Ägypten Gewalt gegen Kinder nicht gesetzlich verboten ist und auch ansonsten gesellschaftlich toleriert zu sein scheint. Alle Erfahrungen mit misshandelnden Eltern zeigen i.d.R. eines: Sie deuten die Gewalt nicht als Gewalt, sondern meinen, diese zum Wohle des Kindes anzuwenden. Entsprechend blind sind diese destruktiven Eltern oftmals gegenüber den Folgen der Gewalt. Würden sie die Folgen emotional an sich heran lassen, könnten sie weder sich selbst noch ihr Handeln ertragen. Insofern glaube ich, dass die Mütter hier nicht ganz die Wahrheit bzgl. den direkten Folgen sagen. Laut einer von der WHO zitierten Studie, in der die Kinder direkt befragt wurden, berichteten 26 % über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung aufgrund der Misshandlungen. (vgl. WHO, 2002, S. 62) Dies stützt meine Vermutung, dass die Folgen hier nicht wahrheitsgemäß angegeben wurden.

Die psychischen Folgen sind dabei noch viel bedeutsamer. Jeder Schlag ist eine Demütigung, eine Herabsetzung des Kindes, eine Ohnmachtserfahrung und soll die absolute Macht der Eltern untermauern. Gehen wir einfach mal davon aus, dass die Kinder zwischen dem 2. und 14. Lebensjahr körperlich bestraft werden. Das wären 10 Jahre. 2,8 % werden öfter als einmal pro Tag geschlagen. Bei 365 Tagen ergibt dies 7.300 Schläge bei zwei Schlägen pro Tag! 3,5 % der Kinder werden dieser Rechnung folgend also 3.650 Schläge einstecken müssen. Und 39 %  aller Kinder  erleben zwischen 520 und 1.040 mütterliche Schläge. Ich denke, dass jedem klar wird, dass Kinder in Ägypten in einem ganz besonders starken Maße von Gewalt betroffen sind.

Gerade jetzt, in den Zeiten, wo Ägypten nach Identität und Halt sucht, ziellos hin- und hertaumelt, ist die Gefahr besonders groß, dass das Opfer in den Menschen erwacht. Dieses „Opfer“ handelt emotional reduziert, weil damals – als Kind - die Reduzierung der inneren Gefühlswelt das Überleben sicherte. Schwarz-/Weißdenken und Freund-Feindschemata werden in der Folge reaktiviert.
Medienberichte wie diese – SPIEGEL  und ZEIT - bereiten mir große Sorgen. Beide Artikel machen deutlich, dass es vielen Akteuren in Ägypten an Empathie, an Sinn für das Gemeinwohl und an fehlender inneren Stabilität mangelt. Und dass alle irgendwie auf der Suche nach Feinden sind. Wer um das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in diesem Land weiß, der wird leider zu einer wenig optimistischen Zukunftsprognose für dieses Land kommen.

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