Montag, 27. Oktober 2008

3. Kindheitserfahrungen und Psychopathologie der Machthaber als Wurzel kriegerischer Politik

Kindheitserfahrungen in der Familie werden von verschiedenen AutorInnen als wichtige Grundlage für gesellschaftliches und politisches Leben und Wirken angeführt (vgl. Mantell, 1978; Miller 1983; Bassyouni, 1990; Christel / Hopf, 1997; Gruen, 2002a, deMause, 2005) bzw. es wird die Bedeutung der Psychologie und Psychopathologie für die Politik hervorgehoben. (vgl. Richter, 1996; Frank, 2004; Wirth, 2006; Kornbichler, 2007) DeMause (2005) hat eindrücklich formuliert: „Jede Kindererziehungspraxis in der Geschichte wird im erwachsenen politischen Verhalten wiederaufgeführt.“ (deMause, 2005, S.119) und „Politische Parteien unterscheiden sich eher nach Psychoklassen (Erwachsene mit ähnlichen Kindererziehungsmodi) als nach ökonomischen Klassen.“ (ebd., S. 188)
Regierungen bestehen letztlich aus ehemaligen Kindern, die groß geworden sind. Regierungsmitglieder und Beamte bringen die Werte, Einstellungen und Neigungen, die sie als Kinder lernten, mit in ihr Amt. Richter (1996) fragt danach, warum Menschen sich davor scheuen, Politik zu psychologisieren bzw. geradezu davor gewarnt wird, in der Politik nach psychischen Einflussfaktoren zu suchen und das, obwohl seit Freud der Einfluss unbewusster Motive eigentlich klar sein sollte. Richter sieht vor allem die Interessen der Machteliten (selbst), die ihre emotionalen Motive verleugnen und das eigene Tun als nüchterne Regelung von Sachfragen beschreiben, als Hindernis entsprechender Psychologisierungen. Mit dem Verweis der Psychologie auf den Privatbereich der Individuen und deren Familien sieht er einen wesentlichen Aspekt ausgeblendet, dessen Klärung zur Heilung der „psychischen Krankheit Friedlosigkeit“ seiner Ansicht nach von zentraler Bedeutung wäre. (vgl. Richter, 1996, S. 27ff)
Aber auch das Volk entemotionalisiert und entpsychologisiert laut Richter die Politik und das obwohl im Volk selbst u.a. sozialpsychologische Dynamiken wirken, z.B. bei Wahlen. (Ein relativ aktuelles Beispiel dafür ist das erstaunliche Wahlergebnis der „Schill-Partei“, die nach ihrem Gründer Ronald Schill – im Volksmund „Richter Gnadenlos“ – benannt wurde. Die Schill-Partei erzielte nur ein Jahr (!) nach Parteigründung bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg 2001 durch ihren rechts-populistischen Wahlkampf und durch die „Ein-Mann-Show“ ihres Gründers 19,4 % der Stimmen. Dieser plötzliche Wahlerfolg ist, so meine ich, nicht nur einfach auf Protestwähler zurückzuführen, sondern hat in der Tiefe etwas mit der „Identifikation mit dem Aggressor“ zu tun und dem Wunsch nach „einer starken Hand“ in der Politik, was ich weiter unten deutlich ausführen werde. Ein weiteres - für mich noch erstaunlicheres - Beispiel ist die Wiederwahl des (nach meinem Empfinden sehr destruktiven) amerikanischen Präsidenten George W. Bush im Jahr 2004. Diese Beispiele zeigen, wie aktuell die in dieser Arbeit benannten Prozesse weiterhin sind.)
Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Tief sitzt der Wunsch, dass dort, wo Vernunft und „das Gute“ geschehen solle und wo die Machtmittel liegen, ggf. über Krieg und Frieden zu entscheiden, die innere Welt und Emotionen keinen Einfluss haben. Insgeheim wissen wir, dass diese Annahme, dieser Wunsch nicht zu halten ist, so Richter weiter. Könnte überhaupt eine menschliche Politik herauskommen, wenn sie von Leuten gemacht würde, die in ihr nicht als vollständige Menschen mit Empfindungen und Gefühlen handeln? Eine interessante Frage, wie ich finde, denn oftmals entschieden in der Geschichte gerade Menschen mit einem gestörten Zugang zu ihren Gefühlen und unbewussten destruktiven Motiven bzw. mit einer pathologischen Persönlichkeitsstruktur u.a. über Krieg und Frieden [1], was ich nachfolgend etwas ausführlicher behandeln werde.



[1] siehe auch ausführlich Kornbichler (2007) und Wirth (2006)



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3.1. Die Kindheit von Diktatoren und destruktiven Politikern

3.1. Die Kindheit von Diktatoren und destruktiven Politikern: Wilhelm II, Ludwig XIII., Friedrich II., Napoleon Bonaparte, Benito Mussolini, Francisco Franco, Nicolae Ceauşescu, Mao Zedong, Nero, Slobodan Milosevic, Saddam Hussein, Ronald Reagan, George H. W. Bush und George W. Bush.
 
Die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren sagte in ihrer Rede „Niemals Gewalt“ im Jahr 1978 bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels: „(...) In keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun. (...) Wie aber war denn nun die Kindheit aller dieser wirklich "verdorbenen Knaben", von denen es zurzeit so viele auf der Welt gibt, dieser Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Menschenschinder? Dem sollte man einmal nachgehen. Ich bin überzeugt davon, dass wir bei den meisten von ihnen auf einen tyrannischen Erzieher stoßen würden, der mit einer Rute hinter ihnen stand, ob sie nun aus Holz war oder im Demütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachen bestand. (...)“ (DIE ZEIT, 13.11.2007)

Wilhelm II – der letzte deutsche Kaiser – vertraute dem Fürsten Eulenburg einst folgendes an: „Der Kaiser erinnert sich mit Bitterkeit an die bei ihm angewandten Erziehungsmethoden, vor allem an die mangelnde Liebe der Mutter und die verfehlten Experimente seines Erziehers. »Er wollte aus mir sein Ideal eines Fürsten machen (...) So kommt es, dass ich absolut nichts empfinde, wo andere leiden (...) Es fehlt mir etwas, das andere haben. Alle Lyrik in mir ist tot.«“ (Gruen, 2002a, S. 44) Auch viele damalige Beobachter – darunter auch die eigene Mutter, Schwester und der Vater – nannten als hervorstechendes Merkmal von Wilhelms Charakter seine „eisige Herzenskälte“ und „Gefühllosigkeit“. (vgl. Röhl, 2001, S. 400) Kornbichler (2007) bezeichnet Wilhelm II als seelisch schwer gestörten Menschen, der zudem an einem starken Minderwertigkeitskomplex litt. „Beim Prinzen Wilhelm fand das statt, was die Psychoanalytiker als Identifikation mit dem Aggressor bezeichnen. Zunächst Opfer der zwangsmoralischen Disziplinierung und soldatischen Indoktrinierung seitens seiner Erzieher, identifizierte er sich nach und nach mit dieser aggressiven Lebensform; so wurde aus dem Opfer im Laufe der Jahre ein Täter.“ (Kornbichler, 2007, S. 165) Kornbichler zitiert einen Bericht, der einen Einblick in die Art der Erziehung bei Hofe gibt. Der Prinzenerzieher Hinzpeter trat im Herbst 1866 seinen Posten an, „und für den kleinen Prinzen begann jetzt – zusätzlich zu den täglichen Elektrisierungen, den gymnastischen Übungen mit der Armstreckmaschine, dem regelmäßigen Anschnallen eines aufgeschlitzten frisch geschlachteten Tieres – die denkbar härteste Erziehung durch einen Hauslehrer, der von vornherein auf die uneingeschränkte Gewalt über die Seele seines Zöglings bestanden hatte. Mit siebeneinhalb Jahren wurde Prinz Wilhelm in die erbarmungslosen Hände eines schrulligen, "spartanischen Idealisten" ohne Gemüt übergeben.“ (ebd., S.161) "Freudlos wie das Wesen dieses pedantischen und herben Mannes", erinnert sich später der Kaiser, so "freudlos die Jugendzeit". (GEOEPOCHE, 2003/04) Bei seiner Geburt war Wilhelm scheintot und hatte zudem schwere Probleme mit dem linken Arm, der kürzer war, als der rechte und lahm war. Den "unbrauchbaren Arm" hat seine Mutter ihm zeitlebens übel genommen und dem Sohn ihre Liebe entzogen. Auch der Vater, Kronprinz Friedrich, hat seine Unzufriedenheit am Sohn ausgelassen, hat ihn missachtet, ihn vor Zeugen "unreif" geschimpft und "urteilslos". (vgl. ebd.) Sein Arm war auch der "Grund" für bereits oben angedeutete Quälerein. GEOEPOCHE beschreibt weitere Details: Operationen, "Fixierungs-Gestelle", Fesselung des rechten Arms, um den linken zur Aktivität zu ermuntern und "animalische Bäder" der lahmen Extremität im Blut frisch geschlachteter Hasen. Diese Zeit - die "medizinische Behandlung" ging über 12 Jahre lang - muss für den kleinen Wilhelm der reine Horror gewesen sein. (siehe dazu auch Röhl, 2001, S. 63ff)
Wilhelms Mutter hatte – folgt man den Ausführungen von Röhl - zudem etwas überfürsorgliches und aufdringliches, forderte stets Liebe von Ihrem Sohn und deutete schon früh viele seiner Reaktionen und Verhaltensweisen als Ablehnung ihr gegenüber. Röhl schreibt an einer Stelle aufschlussreich: „Was die Kronprinzessin nicht erkennen konnte, war, dass (…) sie selbst das eigentliche Problem im psychischen Leben Wilhelms darstellte. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn, so wie er war, nicht akzeptieren. (…) Gerade weil sie so viel von ihm erwartete, hielt sie mit ihrer Kritik nicht zurück. Wilhelm aber, der diese Kritik als Ablehnung auffassen musste, stand vor der Wahl, sich selbst aufzugeben oder sich von der Mutter abzuwenden.“ (Röhl, 2001, S. 401) Wilhelm brach dann schließlich ab dem jugendlichen Alter zusehends den Kontakt zu seinen Eltern ab.
Den reinen Horror brachte Wilhelm II. seinerseits später über Europa, als er den ersten Weltkrieg entflammte. Schon früh hatte er im Militär etwas gesucht, was er als Kind nicht finden konnte: Beim 1. Garderegiment in Potsdam fand der Prinz jene "Familie", die "ich bis dahin hatte entbehren müssen". (vgl. GEOEPOCHE, 2003/04)
Nachdem Millionen Menschen getötet waren und der deutsche Kaiser im holländischen Exil machtlos seinen Lebensabend verbringen musste, kämpfte er rastlos weiter gegen alles Lebendige. "Wie besessen fällt er die Bäume im Park und sägt sie in Stücke; am 12. November 1919 erlegt er den zwölftausendsten Stamm." (ebd.)

Dass es den königlichen Kinder Europas in der Vergangenheit nicht anders erging, als den Kindern im Volk, zeigt auch das Beispiel von Ludwig XIII. (König von Frankreich), über den – nach Zenz (1981) - berichtet wird, dass er bereits im Alter von zwei Jahren regelmäßig jeden Morgen gepeitscht wurde und unter entsprechenden Folgen wie z.B. Alpträumen litt. Am Tage seiner Krönung, da war er noch ein Kind, soll er gesagt haben: „Ich würde auf so viel Huldigung und Ehre gern verzichten, wenn man mich statt dessen weniger peitschen würde.“ (Zenz, 1981, S. 37) Zudem war der kleine Ludwig – obwohl über ein Dutzend Kindermädchen und Pflegepersonal mit seiner Obsorge beauftragt gewesen waren – regelmäßig unterernährt, manchmal sogar dem Tode nahe. (vgl. deMause, 2005, S. 231) Den für die Pflege Zuständigen fehlte offensichtlich das Einfühlungsvermögen, um das Kind ausreichend zu ernähren.
Die ersten Lebensjahre von Ludwig XIII. waren zusätzlich von einer Fülle sexueller Übergriffe und Grenzüberschreitungen begleitet. Er ist noch kein Jahr alt, dokumentiert Philippe Aries, als seine Kinderfrau ihn masturbiert. (vgl. Aries, 1981, S.175) Als er ein Jahr alt ist, wird sein Penis von allen möglichen Leuten „geküsst“. „Während der ersten drei Jahre seine Lebens findet niemand etwas dabei, zum Scherz das Geschlechtsteil dieses Kindes zu berühren.“ (ebd., S. 176) Seine Amme fasst ihn – so Aries - ebenso an, wie die Dienerschaft, „einfältige Jugendliche“, „leichtlebige Frauen“, die eigene Mutter und auch der Vater. Dazu kommen perverse Drohungen (zum „Scherz“). „Seine Amme hatte ihm eingeschärft: Monsieur, lassen Sie nur niemanden Ihre Hoden anrühren, auch ihren Piephahn nicht, sonst wird er Ihnen abgeschnitten.“ (ebd.) Der kleine Ludwig wurde auch zusammen mit seiner Schwester nackt zum König – seinem Vater – ins Bett gelegt, „wo sie sich küssen, miteinander flüstern und dem König großes Vergnügen bereiten.“ Als er vier Jahre alt ist, ist – in Worten von Aries - „seine sexuelle Aufklärung so gut wie abgeschlossen.“ Ab dem Alter von fünf oder sechs Jahren nahmen diese Übergriffe dann ab. Seine eigentliche Erziehung begann kaum vor dem siebten Lebensjahr. Davor – so scheint es – war er freigegeben für alle erdenklichen „sexuellen Scherze“ und Übergriffe, jeder konnte mit ihm tun, was er oder sie wollte. Ab dem Alter von sieben Jahren galt er als kleiner Mann und man ließ von ihm ab. Ludwig selbst entwickelte in dieser Zeit bereits sadistische Züge. So z.B. bzgl. dem Umgang mit seiner Amme. „Er treibt seine Späße mit ihr, lässt sie die Zehen bewegen, die Beine hochheben, sagt seiner Amme, sie solle Ruten holen, um sie durchzuhauen, lässt diesen Auftrag ausführen (…)“ (ebd., S. 177) Ludwig ist etwas über vierzehn Jahre alt, da drängte man ihn nahezu gewaltsam ins Bett seiner ihm versprochenen Frau. Nach der Trauungzeremonie musste er in Gegenwart der eigenen Mutter mit seiner Frau schlafen. Ludwig XIII. wurde als Kind ganz eindeutig schwer sexuell missbraucht und traumatisiert.
Die spätere Regierung Ludwigs XIII. war ein repressives und blutiges Regime. Er kannte keine Zweifel oder Skrupel bei der Durchsetzung seiner Ziele. Jeder Widerstand, egal welcher Art, wurde brutal niedergeschlagen. (vgl. Cremer , 2006, S. 177ff) Diese harte Politik traf auch engste Berater und die eigene Mutter, die er – nachdem sie sich gegen ihn gerichtet hatte - in die Verbannung schickte. Ludwig XIII. war auch in verschiedene kriegerische Handlungen und eine Reihe von Feldzüge verwickelt. Teils ging er dabei besonders grausam vor. So z.B. Im Jahr 1629, als er nach der Kapitulation der Stadt Privas diese plündern und brandschatzen ließ; die Bevölkerung wurde teils niedergemetzelt, teils vertrieben. (vgl. ebd., S. 181)

Der Kronprinz Friedrich II. (der Große und König von Preußen, 1712 - 1786) verbrachte seine ersten vier Lebensjahre unter der Fürsorge einer Untergouvernante, über deren Erziehungsstil man nichts erfährt. Wie in damaligen hochadligen Familien üblich, überließen die leiblichen Eltern die Erziehung komplett Anderen, was im Grunde systematisch den ersten schweren Bruch mit dem Kind bedeutet. Friedrichs Mutter – Königin Sophie Dorothea – scheint kaum eine Rolle im Leben des Kronprinzen gespielt zu haben. Der Biograf Johannes Kunisch beschreibt im Grunde überhaupt keine Beziehung oder Begegnungen mit ihrem Sohn. Alles, was man dazu erfährt ist folgendes: „Ob dem Heranwachsenden in seiner Kindheit jemals mütterliche Zuwendung und Wärme zuteil geworden ist, mag (…) zweifelhaft erscheinen. Spätestens seit die dynastischen Ambitionen der Königin in Bezug auf ihre Kinder abgewiesen und enttäuscht worden waren, trat zutage, dass besonders der Kronprinz und seine Schwester Wilhelmine lediglich Werkzeuge eines machtpolitischen Kalküls waren, das ständig häusliche Konflikte und gelegentlich heftige Auseinandersetzungen heraufbeschwor (…).“ (Kunisch, 2009, S. 12)
Genauer beschrieben ist die Beziehung zum Vater – König Friedrich Wilhelm I. Dieser wird als jähzorniger, unberechenbarer, tyrannischer und aufs Militärische fixierter Vater beschrieben. Die Kindheit und Jugend Friedrichs war auf Anweisung und unter Beteiligung des Vaters von einer militärischen Erziehung mit Drill, körperlichen Züchtigungen und seelischen Verletzungen geprägt. (vgl. WDR, Planet Wissen, 01.06.2009 und Kunisch, 2009) Der junge Friedrich interessierte sich mehr für Musik, Literatur und Sprachen als für das Soldatentum, was dem Willen seines Vaters komplett entgegenlief. Heimlich spielte er Flöte, las französische Romane und lernte Latein. Wenn der Vater davon Wind bekam, setzte es Prügel, auch vor den Augen von Offizieren und Dienstboten. Einem Lehrer, der mit dem Sohn Latein übte, verabreichte der König höchst persönlich Prügel, wie Friedrich II. später selbst berichtete. Danach war der Sohn dran, der sich erschreckt durch den Wutausbruch des Vaters unter einem Tisch verkrochen hatte. Friedrich II. dazu: „Ich zitterte noch mehr; er packte mich an den Haaren, zieht mich unter dem Tisch hervor, schleppt mich so bis in die Mitte des Zimmers und versetzt mir endlich einige Ohrfeigen: "Komm mir wieder mit deiner mensa, und du wirst sehen, wie ich dir den Kopf zurechtsetze" “ (Kunisch, 2009, S. 20) Je älter der Kronprinz wurde, desto strenger und reglementierter wurde die durch den Vater angewiesene Erziehung. Aus der Jugendzeit des Kronprinzen ist eine Konfliktsituation überliefert, in der er vom Vater zunächst vor der versammelten Dienerschaft misshandelt wurde. „Dabei schrie er ihn an und gab ihm in provozierender Verächtlichkeit zu verstehen, dass er sich totgeschossen hätte, wenn er von seinem Vater so behandelt worden wäre; doch er, Friedrich, lasse sich ja alles gefallen.“ (ebd. S. 24) Hier wird der blanke Hass des Vaters deutlich, der sich wünscht, dass sein Sohn sich umbringt. Friedrich II. schrieb im Alter von Sechzehn Jahren noch einmal einen verzweifelten Brief an den Vater, in dem er den „grausamen Hass, den ich aus allem seinen (Anmerkung: des Königs) Tun genug habe wahrnehmen können“, von sich fernzuhalten hoffte. Die schriftliche Antwort des Königs beschreibt zusammenfassend die Haltung des Vaters: „Sein eigensinniger böser Kopf, der nicht seinen Vater liebet, denn wenn man nun Alles thut, absonderlich seinen Vater liebet, so thut man, was er haben will, nicht wenn er dabei steht, sondern wenn er nicht Alles sieht. (…)“ (ebd. S. 24f) Der Vater wollte eine Marionette, jeder Eigensinn sollte dem Sohn ausgetrieben werden. Friedrich versuchte sich immer mehr der Kontrolle des Vaters zu entziehen und wurde auch ein Meister darin, sich zu verstellen. Um dem jähzornigen Vater zu entkommen, beschloss der Thronfolger schließlich 1730 die Flucht. Doch die Pläne flogen auf, Friedrich wurde als Deserteur verhaftet und in Festungshaft genommen. Sein Vater verhängte die Todesstrafe über Friedrichs besten Freund, Hans Hermann von Katte, der in die Fluchtpläne eingeweiht war. Bei der Hinrichtung musste der Kronprinz zusehen. (vgl. ZDF, 11.11.2008) In der Folge beugte sich Friedrich II. nun dem Befehl seines Vaters und heiratete auf dessen Wunsch Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern, an der Friedrich keinerlei Interesse hatte. Als späterer König führte Friedrich II. häufig, ja fast ununterbrochen Krieg. Es scheint so, dass er letztendlich den Willen des Vaters komplett entsprochen wenn nicht gar noch übertroffen hat. Friedrich II. hat sich absolut mit dem Aggressor identifiziert und ist selbst zu einem unerbittlichen Aggressor und Kriegsherren geworden.
Die Geschichte von Friedrich II. hat insofern ein ganz besondere Tragik, wenn man sich die Entwicklungen vor Augen hält, die er selbst in dem Gedicht „An Jordan“ vom 10. Juni 1742 beschrieb:
"Als ich geboren ward, ward ich der Kunst geboren, (…)
Und für des Herrschers Hochmut schien dies Herz verloren,
Das voller Mitleid war und kindlich unbewußt.
Die ganze Welt war mir ein Garten duft'ger Blumen, (…)
Da riß das Schicksal mich aufs große Welttheater,
In der Tragödie »Krieg« ward mir der Heldenpart"


Die Kindheit des französischen Kaisers und Kriegsherrn Napoleon Bonaparte ist ein weiteres Lehrstück für die destruktiven Folgen erlittener Gewalt. Seine Erziehung war (traditionell auf Korsika) rein Sache der Mutter, sein Vater stand weitgehend außen vor und war eh oftmals abwesend. Napoleons Mutter strafte ihren Sohn regelmäßig mit körperlicher Gewalt. Mit welcher Willkür und Kaltherzigkeit sie ihr Kind strafte, zeigt sich deutlich an folgendem Beispiel: „Eines Abends geht sie mit einer Freundin spazieren, als sie bemerkt, dass Napoleone hinter ihnen hergeht. Erbost darüber, weil er ihnen ohne Erlaubnis nachgegangen ist, versetzt sie ihm eine so kräftige Ohrfeige, dass das Kind umfällt. Es weint und reibt sich die Augen. Sie aber kümmert sich nicht darum und setzt mit ihrer Freundin den Weg fort.“(Widl, 1992, S. 30) Widl (1992) berichtet auch kurz von psychischer Gewalt; die Mutter ignorierte ihren Sohn z.B. einmal einen ganzen Tag lang zur Strafe und warf ihm böse Blicke zu (abends wurde er dann wieder verprügelt), ein anderes mal - da war er fünf Jahre alt - gab ihn die Mutter, „um seinen wilden Sinn zu zähmen“, kurze Zeit in eine Mädchenschule, eine erneute Demütigung. Napoleon hat zeit seines Lebens seine (destruktive) Mutter stark idealisiert („Ihre Liebe zu mir ist erhaben.“), was vor dem o.g. Hintergrund für eine starke Identifikation mit dem Aggressor spricht.
Auch Johannes Willms bestätigt die körperliche Gewalt der Mutter. Er schreibt, dass entscheidend für Napoleons frühe Erziehung „das strenge Regiment der Mutter, die den früh ausgeprägten eigenen Willen ihres Zweitgeborenen durch häufige Züchtigungen zu brechen suchte“ war. (Willms, 2009, S. 13) Willms schreibt, dass die Ehe beider Eltern nicht von Liebe geprägt, sondern eine Vernuftsehe war. Letizia Ramolino – Napoleons Mutter -, gebar insgesamt dreizehn Kinder, wovon allerdings nur acht überlebten. (vgl. ebd.) Alleine dieser Tod von fünf Kindern muss einen langen Schatten auf die Familie geworfen haben. In Anbetracht des destruktiven Charakters dieser Mutter mag man an dieser Stelle spekulieren, ob der Tod einiger der Kinder vielleicht mit ihrem Verhalten in Zusammenhang stand. Der eigentlich erstgeborene Sohn starb 1765 im Jahr seiner Geburt und war auch schon auf den Namen Napoleon getauft. Das zweite Kind, ein Mädchen, starb ebenfalls im Säuglingsalter. Erst das dritte Kind, Joseph, überlebte. Der dann Zweitgeborene erhielt erneut den Namen des verstobenen ersten Kindes: Napoleon.
Im Alter von neun Jahren (!) verlässt Napoleon dann auf Wunsch der Eltern das Heim, um zur Erziehung nach Frankreich zu gehen. Im Alter von elf Jahren wurde er auf eine französische Kadettenschule geschickt. Auf Grund seiner geringen Größe und seiner korsischen Abstammung wurde er dort derart stark diskriminiert und gedemütigt, dass er eines Tages verheißungsvoll sagte: „Wartet nur, wenn ich groß bin! Alles Böse will ich dann euch Franzosen antun.“(Widl, 1992, S. 36) Auch Willms schreibt, dass für den neunjähren Napoleon nach Antritt seiner (militärischen) Schulbildung fern ab der Heimat „ein Leidensweg begann, dessen Härte er noch in der Verbannung auf Sankt Helena lebhaft beschwor.“ (Willms, 2009, S. 14)
Im Alter von vierzehn Jahren schreibt Napoleon einen verzweifelten, wohl auch die Eltern anklagenden Brief (dessen Inhalt aus der verwendeten Quelle nicht hervorgeht) aus der Militärschule. Seine Mutter antwortet ihm am 02.06.1784: (…) wenn ich jemals noch einen ähnlichen Brief von Dir erhalten sollte, werde ich mich nicht mehr mit Napoleon abgeben. Wann hast Du, junger Mensch, je gehört, dass ein Sohn, in welcher Lage er sich auch befinden möge, so an seinen Vater schreibt, wie Du es getan hast? Du kannst dem Himmel danken, dass der Vater nicht zu Hause gewesen ist. Wenn er Deinen Brief gelesen hätte, dann wäre er, nach einer solchen Beleidigung, augenblicklich nach Brienne gereist, um den frechen und strafbaren Sohn zu züchtigen. (…)“ (Pilgrim, 1990, S. 79f) Trotz der „ungehörigen Bemerkungen“ und „ausgestoßenen Drohungen“ überweist die Mutter dem Sohn Geld, der sich wohl in finanzieller, wie auch emotionaler Not befindet (wir erinnern uns, Napoleon wurde in der Militärschule schwer gedemütigt). Ihr Brief zeigt zwei Dinge. Erstens, wie schnell sie jederzeit bereit ist, ihren Sohn zu verstoßen, sobald er gegen ihren Willen agiert. Zweitens, auch der Vater, über den man sonst kaum etwas erfährt und der stets abwesend ist, scheint seine Kinder geschlagen zu haben bzw. jederzeit dazu bereit gewesen zu sein, so es denn Anlass dazu gab. Napoleon war gerade einmal 15 Jahre alt, da traf ihn der nächste Schicksalsschlag, sein Vater starb an Magenkrebs.
Schon als Kind fiel Napoleon nach Neumayr (1995) durch seine aufbrausende Art, seinen Jähzorn, seine Grobheit und bisweilen auch durch Brutalität auf. Ein ehemaliger Mitschüler Napoleons berichtet über ihn: „Immer lag etwas Bitteres in seinen Worten, sein Wesen hatte nichts Liebevolles (...).“ (Neumayr, 1995, S. 17) Schon seine Jugendjahre waren zudem geprägt von Lebensmüdigkeit und depressiven Verstimmungen „Was soll ich in der Welt? Da ich doch einmal sterben muss, könnte ich mich dann nicht jetzt schon umbringen?“ und „Das Leben ist mir zur Last, ich habe keinen Genuss, alles wird Schmerz.“ (ebd., S. 18+19) An dieser Stelle wird deutlich, wie viel Wahrheit in dem Satz „Glückliche Menschen fangen keine Kriege an.“ (deMause, 2005, S. 109) steckt, diesen Satz habe ich über dem Inhaltsverzeichnis dem Gesamttext einleitend vorangestellt.
Als Erwachsener prägte Napoleon schließlich entscheidend die Entwicklungen in Europa und ging vor allem auf Grund seiner Feldzüge und Kriege in die Geschichte ein. Mit dem Namen Napoleon verbindet man auch einen ausgeprägten Größenwahn, Narzissmus und Minderwertigkeitskomplex.

Der faschistische Diktator Italiens, Benito Mussolini, hatte - wie so viele andere Diktatoren auch – ebenfalls eine traurige Kindheit. Zu Hause musste er unter strenger väterlicher Aufsicht in der Schmiede arbeiten und erhielt Schläge, sobald er unachtsam schien oder sich ablenken ließ. Der Vater erzog ihn kompromisslos und „lehrte ihn auch den Hass gegen Monarchie, Kirche und Gesellschaft“ (Kirkpatrick, 1965, S. 17) Benos (2011, S. 95) schreibt: "Der Vater hielt Prügel für das beste Erziehungsmittel und hatte seinen Sohn mit dem Gurt häufig grün und blau geschlagen." Mussolinis Mutter hegte ihrerseits ehrgeizige Pläne für ihre Kinder, die sie unbedingt in höhere Gesellschaftsschichten aufsteigen sehen wollte. Mussolini idealisierte seine Mutter stark, sagte aber auch im gleichen Atemzug: „(...) Ich kannte nur eine Angst: Irgend etwas zu tun, was ihr missfallen könnte.“ (Kirkpatrick, 1965, S. 17) Im Alter von neun Jahren wurde Benito von seinen Eltern schließlich gegen seinen Willen auf ein kirchliches Internat geschickt (vor allem dem egoistischen Willen der Mutter nach), in dem er ein Außenseiter war, regelmäßig unter Arrest stand und Prügel durch die Lehrer bezog. Er selbst empfand das Internat als eine Strafe. Mussolini fiel seinerseits schon als Junge durch Jähzorn, Zynismus und häufige, schwere Prügeleien mit Mitschülern auf. Bei einer Auseinandersetzung stach er sogar mit einem Messer einen Mitschüler nieder. Mit achtzehn Jahren ging er letztlich von einer anderen Schule ab und Kirkpatrick schreibt verhängnisvoll, verheißungsvoll: „Mit dem Diplom in der Hand, warf er aufatmend die Fesseln seiner Kindheit ab und rüstete sich, der Welt die Stirn zu bieten.“ (ebd., S. 23)

Die Kindheit von Spaniens Diktator Francisco Franco ist ebenfalls ein Lehrstück dafür, wie missachtete Kinder sich später an der Gesellschaft rächen können. Francisco Franco entstammte einer Familie mit langer militärischer Tradition, schon der Großvater war ein hochrangiger Militär. Sein Vater - Nicolás Franco – war ein Marineoffizier, der sich auch zu Hause wie „ein General aufführte“, autoritär und tyrannisch war. (vgl. Preston, 1995, S. 3ff) Seine Kinder und auch seine Frau wurden oft Opfer seiner Wutausbrüche. Seine Tochter berichtete später, dass er seine Söhne schlug, hielt sich aber über das Ausmass der Gewalt bedeckt. Zu Hause war der Vater oft abwesend, traf sich außerhalb zum Kartenspielen, für Trinkgelage und mit anderen Frauen. Besonders sein zweitgeborener Sohn Francisco war Ziel seiner Ablehnung. Der dünne, schweigsame Junge enttäuschte seit frühester Kindheit die Vorstellungen des Vaters. Auf ihn angesprochen sprach er zuerst von seinem Sohn Nicolas, manchmal auch von Ramon, Francisco war nur „mein anderer Sohn“. (ebd.)
Don Nicolas verachtete seinen zweiten Sohn auch noch, als der den Bürgerkrieg gewonnen hatte: "Paquito als Staatschef! Paquito als Caudillo! Dass ich nicht lache!" (DER SPIEGEL, 14.12.1992)
Francos Mutter war vor allem bemüht, die religiös-bürgerliche Fassade nach Außen aufrecht zu erhalten und ihr Unglück zu verdecken. Nach dem krankheitsbedingten Tod ihrer kleinen Tochter Paz im Jahr 1903 war sie zudem am Boden zerstört. (Über die Auswirkungen dieser Tragödie auf die anderen Familienmitglieder wird in den Quellen nichts beschrieben) Alle Schilderungen von dem Biografen Paul Preston und auch vom SPIEGEL deuten darauf hin, dass der kleine Francisco seine Mutter trösten und stützen musste. Er begleitete seine Mutter Pilar täglich zur Kirche, wo sie Trost im Gebet suchte. Als ihr Ehemann die Familie im Jahr 1907 – da war Francisco 14 Jahre alt – endgültig verließ, trug sie ab sofort nur noch schwarze Kleider. Es scheint so, schreibt Preston, dass dieser Aufbau eines Schutzschildes vor dem Unglück seiner Mutter auf Kosten der emotionalen Entwicklung von Francisco ging und er eine kalte, innere Leere ausbildete. (vgl. Preston, 1995, S. 4) Francisco war ein einsames, unglückliches und in sich gekehrtes Kind, das zudem älter schien, als es eigentlich war. Er war brav und folgsam.
Die Schilderungen über seine Mutterbeziehung lassen letztlich den Schluss zu, dass er emotional von dieser missbraucht und als Trostpflaster gebraucht wurde. Als Person mit eigenen Bedürfnissen scheint er nicht gesehen worden zu sein. Die Mutter hatte ihren Kindern außerdem – trotz oder gerade wegen dieser Verhältnisse - den eisernen Willen eingepflanzt "aufzusteigen, Ruhm zu erlangen, und sei es unter höchsten Opfern und Anstrengungen", schreibt DER SPIEGEL.
Die Anerkennung seines Vaters konnte Francisco nie erreichen. Gleichzeitig idealisierte er diesen, kreierte das Bild eines Helden, bestritt später, dass es Probleme zwischen seinem Vater und seiner Mutter und auch den Kindern gegeben hatte und ließ seinen Vater nach dessen Tod prachtvoll beerdigen. (vgl. Preston, 1995, S. 5)
Vaterersatz und Selbstbestätigung suchte Francisco beim Militär, wo er mit vollem Einsatz in jungen Jahren begann. Auch hier erlebte er allerdings zunächst Demütigungen auf Grund seiner kleinen Größe und wurde auch das Ziel von grausamen Initiationsritualen durch seine Kameraden, auf die er mit Gewalt reagierte. (vgl. Preston, 1995, S. 9ff) Spott hatte er auch schon als Kind von Spielkameraden und seinen Geschwistern erfahren, die den schmächtigen, kränkelnden Jungen "cerillita" (Zündhölzchen) nannten.
Aus diesem Jungen wurde später der große General und Diktator Spaniens (El Caudillo - der „Anführer“). Im Militär hatte er sich schnell nach oben gearbeitet und nach dem Bürgerkrieg die Macht übernommen. Mindestens 30.000 politische Gefangene wurden unter Francos Regime zwischen 1939 und 1945 hingerichtet, schreibt DER SPIEGEL. Über eine Viertelmillion Republikaner wurde eingekerkert und gefoltert, eine halbe Million musste ins Exil fliehen. Noch 1946 befand Franco: "Es gibt keine Erlösung ohne Blut." Todesurteile unterzeichnete er, "ohne dass mir die Hand zitterte". (vgl. DER SPIEGEL, 14.12.1992)


Über den Vater des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu wird berichtet, dass er sein weniges Geld im Wirtshaus vertrank, statt seine Kinder zu ernähren (insgesamt hatte er 10 Kinder, wovon eines früh starb) und dass er seine Kinder täglich „zu ihrem Besten“ schlug. Die Mutter achtete streng auf die schulischen Leistungen der Kinder, die sie ebenfalls ausgiebig prügelte. (vgl. Miller, 1990, S. 115) Alice Miller analysiert in ihrem Beitrag u.a. den Wahn des Diktators Ceauşescu, der sein Volk zu einem Überfluss an Kindern zwang, die nicht ernährt und gewärmt werden konnten. „Der Tyrann hat sich für sein persönliches Schicksal stellvertretend an Tausenden Müttern, Vätern und Geschwistern gerächt. Indem er sich weigerte, sich mit seinem Schicksal zu konfrontieren, seine Geschichte und seine Gefühle von damals total verdrängt hielt, brachte er ein ganzes Volk an den Rand des Untergangs. Ceauşescu hat nicht nur die rumänischen Kinder in die gleiche Not getrieben, die einst die seine war: Lieblosigkeit, Hunger, Kälte, ständige Kontrolle und die allgegenwärtige Heuchelei. (...) Er wollte Millionen Frauen dazu zwingen, Mütter zu werden, um ja niemals fühlen zu müssen, was er als Kind verdrängte: dass er seiner Mutter nur eine Last war und dass seine Existenz nachweisbar von ihr vergessen wurde.“ (ebd., S. 120)
Ceauşescu ging während seiner Amtszeit insbesondere mit Hilfe seiner Geheimpolizei Securitate grausam und brutal gegen das eigene Volk und politische Gegner vor. Schätzungsweise 10.000 Menschen hat die Securitate während dieser Zeit ohne Prozess hingerichtet und anschließend anonym verscharrt. (vgl. SPIEGEL-Online, 13.10.2009)

Auch auf der anderen Seite der Welt finden sich solche Zusammenhänge. Über den chinesischen Diktator Mao Zedong - chin. = Mao Tse-tung - (der für 70 Millionen Tote in Friedenszeiten verantwortlich war) wird berichtet, dass sein Vater ihn schlug und ihn „faul und nutzlos“ nannte. (vgl. Chang / Halliday, 2005) Der enorme Hass, den Mao als Folge dieser erlittenen Gewalt für seinen Vater empfand, wird durch folgendes Zitat deutlich: „Als er 1968 Rache an seinen politischen Widersachern nahm, sagte er den Kommandanten der Roten Garden, er hätte es gerne gesehen, wenn auch sein Vater so brutal misshandelt worden wäre: «Mein Vater war schlecht. Wenn er noch am Leben wäre, sollte man mit ihm "das Flugzeug" machen» - eine qualvolle Haltung, bei der die Arme des Opfers hinter seinem Rücken verrenkt wurden und der Kopf nach unten gedrückt wurde.“ (ebd., S. 21) An Hand dieses Zitates wird – wie ich finde - erschreckend „lehrbuchartig“ deutlich, wie Mao sein Volk stellvertretend für seinen Vater tyrannisierte.
Maos Vater verlangte offensichtlich – das wird an einer von Mao berichteten Szene deutlich - oftmals als Zeichen der Unterwerfung den Koutou, bei der es heißt, auf beide Knie zu sinken und den Kopf auf die Erde zu schlagen. Mao schildert später eine Szene, wo er vor den Beleidigungen seines Vaters vor Gästen des Hauses wütend nach draußen lief. Der Vater verfolgte ihn. Mao drohte ihm, in einen Teich zu springen, falls er näher kommen würde (also wohl mit Selbstmord). Der Vater verlangte den Koutou. Er, Mao hatte sich dann bereit erklärt, den Koutou nur auf einem Knie zu vollziehen, wenn im Gegenzug der Vater ihn nicht schlage. Wie Mao stolz berichtete, endete somit der Krieg zwischen ihm und seinem Vater durch diese offene Rebellion. Mao selbst sagte im gleichen Atemzug, dass er vorher um so mehr geschlagen wurde, wenn er sich bescheiden und unterwürfig gezeigt hatte. (vgl. Adolphi, 2009, S. 23ff) Hier wird das ganze Ausmaß der väterlichen Gewalt deutlich. Je hilfloser sich Mao zeigte, desto mehr wurde er geschlagen. Dies zeigt, meine ich, deutlich den Sadismus von Maos Vater. Adolphi schreibt auch, dass Mao häufig Prügel bezog und seinen Vater sehr abweisend und feindselig beschrieb. (ebd., S. 26)
Auch zwischen Maos Eltern wird es oftmals erhebliche Konflikte gegeben haben. Seine Mutter war streng gläubige Buddhistin, während sein Vater sich zu den Skeptikern zählte. Mao stand zwischen den beiden, sympathisierte allerdings mehr mit den Ansichten seiner Mutter, die er sehr verehrte und nur positiv von ihr berichtete. (vgl. Spence, 2003, S. 20ff, auch Adolphi, 2009, S. 24ff ) In den verwendeten Quellen finden sich allerdings keinerlei Hinweise darauf, dass seine Mutter ihm in irgendeiner Weise helfend und schützend gegen den gewalttätigen Vater zur Seite stand. In der damaligen chinesischen Kultur war die bedingungslose Unterordnung unter den Vater auch etwas, was allgemein akzeptiert wurde, sicherlich auch von Maos Mutter. Was fühlt ein Kind gegenüber der Mutter, wenn es vor ihren Augen und mit ihrem Wissen vom Vater ständig schwer verprügelt wird, ohne dass eingegriffen wird? Vielleicht Verrat, Hass, Wut, Ohnmacht? Wie passt dies mit Maos späterer Verehrung seiner Mutter zusammen? Mao fand in seiner Mutter ganz offensichtlich keinen helfenden Zeugen, das kann hier festgehalten werden.

Bereits mit sechs Jahren musste Mao auf dem elterlichen Hof mitarbeiten, besuchte aber auch eine Schule, in der „auch der Lehrer reichlich Prügel austeilt“. (Adolphi, 2009, S. 27) Im Alter von dreizehn Jahren verließ Mao - wie die meisten Jungen in China – die Schule und musste fortan die volle Arbeit eines Erwachsenen am Hof seines Vaters tun. Mit vierzehn wurde er zwangsverheiratet, seine Braut war achtzehn. (vgl. Spence, 2003, S. 22) Seine Ehefrau starb allerdings nach ca. zwei oder drei Jahren des Zusammenlebens. Im Alter von ca. siebzehn Jahren besuchte Mao dann wieder eine neue Schule in Xiangxiang. Mao wurde dort allerdings wegen seiner ländlichen Kleidung und seiner ärmlichen Herkunft verachtet und als Außenseiter behandelt. (vgl. ebd., S. 26)
Als junger Mann entwickelte Mao „eine Bewunderung für starke Männer wie Napoleon oder auch den Legalisten Shan Yang, der strenge Gesetze und drakonische Strafen als Form der Regierung befürwortete.“ (vgl. Wemheuer, 2010, S. 23)

Dergleichen Biographien findet man natürlich auch, wenn man noch weiter in die Vergangenheit zurück schaut, am Beispiel vom römischen Kaiser Nero. Dieser wuchs in einer Atmosphäre auf, in der zwischen den Erwachsenen seines Umfeldes Hass, Intrigen, Verrat, Machthunger, (Geschwister-)Inzest und Mord herrschte. (vgl. Waldherr, 2005)
Um Neros Vater ranken sich etliche Geschichten, die ihn als aufbrausend, anmaßend und durchgehend schlechten Menschen erscheinen lassen. So soll er z.B. einen Freigelassen umbringen haben lassen, nachdem dieser sich weigerte, bei einem Trinkgelage so viel zu trinken, wie befohlen. Bei anderer Gelegenheit überfuhr er angeblich absichtlich ein Kind mit seinem Gespann usw. Später wurde er wegen Majestätenverbrechen, mehrfachen Ehebruchs und einer angeblichen inzestuösen Beziehung mit seiner Schwester angeklagt und entkam nur knapp der Verurteilung. (ebd., S. 15)
Neros Mutter, Agrippina, wird als kalt, berechnend und skrupellos beschrieben. (vgl. Herrmann, 2005, S. 21) In ihrer eigenen Biographie sind schwere Schicksalsschläge zu finden. Ihre Mutter hungerte sich zu Tode, nachdem sie vom Kaiser verbannt worden war, da war Agrippina gerade mal vierzehn Jahre alt. Zwei Brüder starben eines unnatürlichen Todes, der dritte stellte ihr nach. (vgl. ebd., S. 22) Und Walherr schreibt dazu: „Man muss kein Psychologe sein, um sich vorstellen zu können, welche Folgen dies für die charakterliche Ausbildung der Heranwachsenden haben musste. Rücksichtslosigkeit, Verschlagenheit und brutaler Einsatz aller Mittel waren ihr im politischen Überlebenskampf vorgeführt worden.“ (Waldherr, 2005, S. 20)
Über körperliche und sexuelle Misshandlungen gegen das Kind Nero findet sich nichts bei den verwendeten Quellen, ich meine aber, dass die Profile der Eltern, das damalige Umfeld und die üblichen antiken „Erziehungspraktiken“ hier einiges erahnen lassen. Allerdings wird berichtet, dass Nero als Säugling in feste Tücher gewickelt wurde, „um damit einen späteren ebenmäßigen Wuchs zu gewährleisten und einer möglichen Verkrümmung der Gliedmaßen vorzubeugen.“ (Waldherr, 2005, S. 23) Das feste Wickeln und Binden von Säuglingen ist vor allem von Lloyd deMause (1992, 2005) in seinen Arbeiten immer wieder als eine Quelle inneren Terrors beschrieben worden. Diese schmerzvolle und einengende Prozedur ist auch noch heute in vielen Teilen der Welt zu finden.
Wie in den damaligen aristokratischen Familien üblich, wurde Nero sehr wahrscheinlich auch von einer Amme gestillt und aufgezogen, dadurch war die (so wichtige) Bindung zwischen Mutter und Kind nicht besonders eng. (vgl. Waldherr, 2005, S. 39) Als Kleinkind musste Nero dann auch die räumliche Trennung von seiner Mutter erleben, als diese in Ungnade fiel und einige Zeit in die Verbannung geschickt wurde. Im Alter von drei Jahren erlebte er dann den Tod des Vaters und kam schließlich zur Pflege für mehrere Monate zu einer Tante. Diese verband mit Neros Mutter eine tiefe Feindschaft und beide buhlten darum, bei dem kleinen Nero den Vorrang zu haben. Die Beziehung zur Tante wird wohl eher schlecht gewesen sein, denn Nero billigte Jahre später ihre - durch seine Mutter angezettelte - Verurteilung zum Tode und sagte sogar als Zeuge gegen sie aus. (ebd., S. 39ff) Über Neros Mutter wird weiter berichtet, dass sie stets großes mit ihm vorhatte und ihn zum Kaiser machen wollte. Die Berichte enthüllen eine rein zweckmäßige Bindung an ihren Sohn, von Gefühlen ist keine Rede. Wie blindwütig und tief ihr Wunsch nach dieser Machtposition für ihren Sohn war, zeigt eine Reaktion von ihr auf die Prophezeiung eines Astrologen, dass das Kind später herrschen, aber sie töten würde: „Soll er mich töten, wenn er nur herrscht.“ (ebd, S. 24) Und so kam es dann auch, Nero wurde Kaiser und ließ später seine Mutter umbringen. Das wenige, was wir über Neros Kindheit wissen, reicht - denke ich - aus, um von einer sehr traumatischen Kindheit sprechen zu können. Nero blieb in der Geschichtsschreibung besonders durch seinen manischen Charakter (viele Autoren der Nachwelt stellten ihn auch als größenwahnsinnigen Tyrannen dar), seine Familienmorde, die grausamen Hinrichtungswellen - insbesondere nach dem großen Brand in Rom - gegen die Christen und durch seine verträumte Liebe zu Kunst und Theater in Erinnerung (er selbst trat als Schauspieler und Sänger auf).
  
Aus der jüngeren Geschichte gibt es ebenfalls anschauliche Beispiele, so z.B. aus dem ehemaligen Jugoslawien: Der politische Serbenführer Slobodan Milosevic war offenbar laut Wirth (2006) ein seelisch schwer traumatisierter Mensch. Seine Lebensgeschichte ist durch einschneidende Verlusterlebnisse und ein hohes Maß an Destruktivität gekennzeichnet. Milosevic wuchs - mit Wirths Worten .- in einer funktionsgestörten und psychopathologischen Familie auf. Sein Vater verließ früh die Familie; er erschoss sich 1962 und blieb ein „Schwarzes Loch in Milosevics Biographie“. Milosevics Mutter war hart, despotisch, unduldsam, Besitz ergreifend und psychisch überlastet. Milosevic scheint frühzeitig Erwachsenenfunktionen übernommen zu haben und wurde von der Mutter zum „Retter der Familie“ verklärt bzw. von dieser als Pseudo-Erwachsener seelisch gebraucht und ausgenutzt. Der Lieblingsonkel hatte sich bereits Jahre vor dem eigenen Vater - da war Milosevic sieben Jahre alt - erschossen. Als Slobodan 31 Jahre alt war, folgte der nächste Schicksalsschlag, seine Mutter erhängte sich an der Schlafzimmerlampe. (vgl. Wirth, 2006, S. 284ff) “Slobodan Milosevic ist sein ganzes Leben lang nie aus dem Schatten seiner destruktiven Elternfiguren herausgetreten.” (ebd., S. 286) Wirth bezeichnet Milosevic in seiner Analyse als narzisstisch gestörte Persönlichkeit und vermutet genau genommen auch eine Borderline-Störung. (vgl. zu dieser Störung Dulz / Scheider, 2001). Slobodan Milosevic wurde in Den Haag auf Grund verschiedener Kriegsverbrechen und wegen Völkermord angeklagt, verstarb allerdings bevor der Prozess zu Ende ging.

Auch der irakische Diktator Saddam Hussein hatte laut deMause (2005) „eine unglaublich traumatische Kindheit“. „Seine Mutter versuchte ihn abzutreiben, indem sie mit den Fäusten gegen ihren Unterleib schlug, sich mit einem Küchenmesser schnitt und dabei schrie: „In meinem Bauch trage ich einen Satan!“ „ (deMause, 2005, S. 29) Saddam verlor früh den Vater, wobei die Umstände dessen Verschwindens im Dunkeln bleiben. Zur Vaterfigur wurde ein Onkel mütterlicherseits – Khairallah Tulfah -, bei dem Saddam unterkam und den er bewunderte. Dieser Onkel wird von Coughlin (2002) als „streitsüchtiger und launischer Mensch“ und als „unbelehrbarer Bewunderer Adolf Hitlers und des Nationalsozialismus“ beschrieben. (vgl. Coughlin, 2002, S. 46) DeMause schreibt, dass Saddam regelmäßig von diesem Onkel geschlagen wurde, dieser ihn den „Sohn eines Köters“ nannte und er Saddam beibrachte, wie man eine Waffe gebraucht. (vgl. deMause, 2005, S. 29) Khairallah kam schließlich für seine Naziverehrung ins Gefängnis und der junge Saddam musste wieder bei seiner Mutter leben, die mittlerweile einen neuen Mann gefunden hatte. Willkommen geheißen wurde er nicht und er scheint in seinem zu Hause „sträflich vernachlässigt worden zu sein“. Der neue Stiefvater war zudem brutal. Er „(...) verpasste dem kleinen Jungen gern eine Tracht Prügel mit einem mit Asphalt überzogenen Stock.“ (Coughlin, 2002, S. 48) Saddam Hussein vertraute dem offiziellen Biographen Iskander an, dass er niemals jung und unbeschwert war, sondern stets ein eher trauriges Kind, das sich von den anderen fern hielt. Coughlin spekuliert auch über einen möglichen sexuellen Missbrauch Saddams durch den Stiefvater. (vgl. ebd.) Da Saddam vaterlos und ein Außenseiter war, wurde er zusätzlich gnadenlos von den anderen Kindern des Dorfes gehänselt und oft auch verprügelt. „Er wurde so schlimm drangsaliert, dass er sich angewöhnte, zur Verteidigung einen Eisenstab mitzunehmen, wenn er sich aus dem Haus wagte.“ (ebd., S. 49)
Saddam Hussein vergötterte seine Mutter (die nebenbei bemerkt auf keinem erhaltenden Foto lächelte, sondern eher finster dreinblickte) bis zu ihrem Tode, worüber sich der Biograph Coughlin „angesichts der Erniedrigungen“ sehr wundert. (Anmerkung: Wenn man sich die Fakten anschaut, erscheint Saddams Bezeichnung für den ersten Golfkrieg als "Mutter aller Schlachten" in einem ganz anderen Licht...) Ebenso verehrte er seinen (gewalttätigen) Onkel, den er später zum Bürgermeister von Bagdad machte. Hier findet sich erneut eine starke Identifikation mit den Aggressoren.
Saddam Hussein verübte nach deMause seinen ersten Mord im Alter von 11 Jahren... (vgl. deMause, 2005, S. 29)

Solche Beispiele finden sich natürlich auch in westlichen Demokratien. DeMause schreibt, dass die Kindheit vom amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan „ein Alptraum von Vernachlässigung und Missbrauch“ war. (deMause, 2005, S. 19)
Ronald Reagans Vater war ein gewalttätiger Mann und Alkoholiker. Er trat den jungen Ronald mit seinem Stiefel und pflegte ihn und seinen Bruder des Öfteren zu "verkloppen". Der Vater wurde später von seinem Sohn beschrieben als jemand, der „ein Leben in fast andauernder Wut und Frustration“ geführt habe. Selbst aus den wenigen Erinnerungen in den verstreuten Äußerungen über seinen Vater wird deutlich, dass Ronalds Verhältnis zu ihm angefüllt war von Augenblicken des Terrors und gleichzeitig einem Verlangen nach Nähe. (vgl. deMause, 1984, S. 59)
Der Alkoholismus seines Vaters war auch der Hauptgrund für häufige Orts- und Stellungswechsel, die Familie zieht ständig um, mitunter schlafen sie alle im Auto. Wochenlang geht Ronalds Vater auf Zechtour, der Junge erinnert sich an seine Ängste während der Abwesenheit des Vaters und die dann folgenden "lauten Stimmen in der Nacht". Als Elfjähriger kommt er einmal nach Hause und findet seinen Vater "sinnlos betrunken auf dem Rücken liegend auf der Veranda". Er muss diesen großen, schnarchenden Koloss ins Bett verfrachten. Im Rückblick bezeichnet Reagan seine Kindheit als "eine jener seltenen Huckleberry-Finn-Tom-Sawyer-Idyllen“. Die Schattenseiten schien er vollkommen verdrängt zu haben. (vgl. DER SPIEGEL, 26.10.1981) Seine Autobiographie nannte Reagan übrigens „Wo ist der Rest von mir?“ (Where's the Rest of Me?), um, wie er in der Einleitung sagte, anzuzeigen, dass er den größten Teil seines Lebens mit dem Gefühl verbracht hatte, es fehle ihm etwas, ein Teil von ihm. (vgl. deMause, 1984, S. 55) Diese Zerrissenheit, inneres Fremdsein und das Gefühl „nicht ganz zu sein“ ist typisch für traumatisierte Kinder. (Im weiteren Textverlauf wird Arno Gruen dazu noch zu Wort kommen)
Das Resultat war laut deMause eine Kindheit der Phobien und Ängste bis zum Grad der Hysterie und verschüttete Gefühle der Wut. „Als Erwachsener fand Ronald Reagan Gefallen daran, eine geladene Pistole zu tragen, er zog auch Selbstmord in Erwägung, wurde davon nur durch das defensive Manöver abgehalten, in die Politik zu gehen und ein Anti-Kommunisten-Krieger (pers. Anmerk.: Die Sowjetunion war für Reagan das "Reich des Bösen") zu werden, gegen imaginäre „Feinde“ ins Feld zu ziehen, die er für die Gefühle, welche er in sich selbst verleugnete, verfolgte.“ (deMause, 2005, S. 19)
Volker Elis Pilgrim hat Reagans destruktive Politik und Einstellung deutlich zusammengefasst: „Sein Blut- und Bombentemperament kam immer wieder zum Ausdruck: Raketenstationierung in Europa, Einmarsch in Grenada, Infiltration in Nicaragua, Unterstützung aller reaktionären Staatsmänner der Welt, Bombardierung Tripolis, Vorbereitung zum Krieg der Sterne. Reagan war vom gewinnbaren Atomkrieg überzeugt. Die USA müssten nur den „Erstschlag“ unternehmen. (…) Berühmt wurden seine Sätze vor einer Rundfunkansprache 1984, die nur für das Team gedacht waren und zufällig festgehalten wurden: „Amerikanische Mitbürger! Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass ich heute ein Gesetz zur endgültigen Auslöschung Russlands unterzeichnet habe. Das Bombardement beginnt in fünf Minuten.“ " (Pilgrim, 1990, S. 289)

Auch der Präsidentschaftsstil von George H. W. Bush (Vater von Präsident George W. Bush und ehemals Vizepräsident unter Ronald Reagan) war stark von seiner Kindheit bestimmt, die voller Angst und körperlichen Bestrafungen war. (vgl. deMause, 2005, S. 20ff) Georges Bruder, Prescott Jr., sagte über den gemeinsamen Vater: "Er legte uns übers Knie und prügelte uns mit seinem Gürtel durch. (...) Er hatte einen starken Arm, und Junge, haben wir das gespürt. (...) Wir hatten alle Angst vor ihm. Als wir jung waren, hatten wir alle Todesängste vor Dad.“ (zit. nach ebd., S. 20) George selbst gestand einmal: "Dad war richtig unheimlich." (ebd.) George H. W. Bush befahl während seiner Amtszeit den Krieg gegen den mittelamerikanischen Staat Panama und gegen den Irak.

George H. W. Bush Senior gab seinerseits an seinen Sohn George W. Bush weiter, was er selbst erlebt hatte, indem er körperliche Gewalt anwandte. (vgl. Gruen, 2004) Er galt außerdem als distanzierter und chronisch abwesender Vater. (vgl. Frank, 2004, S. 23 + 36ff) Zudem wird berichtete, dass Bush Junior die Rolle des „dienenden Retters“ seiner depressiven Mutter zugeschrieben bekam. (vgl. Gruen, 2004) Frank (2004) beschreibt die Mutter, Barbara Bush, als kalte Erzieherin, die in der Familie für Zucht und Ordnung sorgte und von ihren Kindern „die Vollstreckerin“ genannt wurde. Auch sie übte körperliche Gewalt gegen die Kinder aus, so wie sie es selbst einst als Kind in ihrer Herkunftsfamilie erlebt hatte. Bei Barbara Bush stellt Frank auch eine gespaltene Weltanschauung in „Gut“ und „Böse“ fest, die ganz offenkundig auch bei ihrem Sohn zu finden ist.
Im Alter von sechs Jahren erlebte George W. ein weiteres Trauma, nämlich Krankheit und Tod seiner kleinen Schwester Robin. Im Jahr 1953 wurde Leukämie bei Robin festgestellt. Barbara Bush blieb daraufhin monatelang in New York, um Robin bei ihrer Krebstherapie zu unterstützen. George und das Baby Jeb wurden zunächst bei Nachbarn untergebracht, später wurde dann eine Haushälterin eingestellt und die Kinder kehrten zumindest ins vertraute eigene Haus zurück. (vgl. Auchter, 2007, S. 8ff) George musste sich verlassen gefühlt haben (Wir erinnern uns, der Vater war eh stets abwesend). Er wurde außerdem nicht über die Krankheit seiner Schwester aufgeklärt. Als die Schwester schließlich starb, fuhren die Eltern einen Tag später zu Babara Bushs Vater und spielten Golf. (ebd.) Eine Trauerfeier für Robin fand nicht statt.
Diese Tragödie wurde in der Familie Bush - schreibt Frank, 2004, S. 21-37 -, in der eh der Ausdruck gerade von schmerzlichen Gefühlen unerwünscht war, nicht offen betrauert und besprochen und letztlich nie wirklich verarbeitet.
Welch eine Ironie, schreibt Frank, „(...) dass dieses Kind als Erwachsener ausgerechnet zu dem Zeitpunkt Präsident ist, als seine Nation den Moment ihrer größten Trauer erlebt – die Zeit der tiefen Erschütterung nach dem 11. September 2001.“ (Frank, 2004, S. 35ff) So wich George W. Bush - nach Frank - der Trauer aus, schien unfähig, öffentlich Trauer zu zeigen und lief geradewegs zur Wut und zur Rache über...
Arno Gruen schreibt über diese Eltern-Kind-Beziehung in der Familie Bush. „Genau so sieht eine Beziehung aus, die Kinder früh zu Marionetten macht, sie ihrer eigenen Selbstberechtigung beraubt, sie mit Verachtung für sich und ihre Welt zurechthämmert. Hier liegt die Quelle für das Verhalten solcher Menschen, die uns dann alle durch ihr Spiel mit dem Leben ins Verderben treiben.“ (Gruen, 2004)
George W. Bush sagte übrigens einmal: "Wenn wir eine Diktatur hätten, wäre alles weiß Gott viel einfacher, solange ich der Diktator bin.“ (Auchter, 2007, S. 12)

Nachfolgend werde ich die beiden Paradebeispiele Adolf Hitler und Stalin bzgl. o.g. Zusammenhänge ausführlich darstellen und weiter kommentieren.
Vorher allerdings noch ein Zwischengedanke: Was wir oben über die Kindheit der benannten Personen erfahren haben ist erschreckend. Es ist dabei eigentlich erstaunlich, dass die Gewalt gegen die Kinder überhaupt dokumentiert werden konnte. War und ist doch i.d.R. die Gewalt innerhalb von der Familie ein Tabu und wird von Stillschweigen umhüllt. Ich nehme somit an, dass die geschilderten Details nur ein Auszug dessen sind, was die genannten Personen alles erfahren haben. Meine Erfahrungen mit dem Thema sind, dass die Dinge, die Kindern angetan werden, oft über die Vorstellungskraft eines normalen Menschen hinaus gehen. Es liegt darüber hinaus in der Natur der Sache, dass man über die Ereignisse in den entscheidenden ersten drei Lebensjahren oder speziell in der Säuglingszeit meist nichts erfährt. Es ist kaum vorstellbar, dass misshandelnde Eltern z.B. im ersten Lebensjahr liebevoll zu ihrem Säugling waren und ihn dann erst später schlecht behandelten. Vielmehr können wir annehmen, dass die o.g. Personen auch schon als Säugling Entbehrungen und ggf. die ein oder andere Form von Gewalt erlebt haben. Solch frühe Erfahrungen graben sich tief ein in die Psyche eines Menschen. Wir müssen uns klar machen, dass das Jahr 365 Tage hat. Jährlich waren diese Kinder 365 Tage ihren destruktiven Eltern ausgesetzt! Ich möchte diesen Teil wiederum mit einem Auszug aus der Rede von Astrid Lindgren schließen: „Auch künftige Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben - das ist erschreckend, aber es ist wahr.“(DIE ZEIT, 13.11.2007)





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3.2 Paradebeispiel: Adolf Hitler im Schatten seiner Kindheitserfahrungen

O-Ton Adolf Hitler:
Die Leute dürfen nicht wissen wer ich bin. Sie dürfen nicht wissen, woher ich komme und aus welcher Familie ich stamme." (Zdral, 2005, S. 156)

Öffentlich kaum thematisiert – schon gar nicht im Zusammenhang mit Hitlers späterem Wirken – sind die Kindheitserfahrungen von Adolf Hitler.[1] Und wenn diese dann vereinzelt thematisiert werden, scheinen entsprechende Zusammenhänge eher verleugnet zu werden. Der Hitlerbiograph Alan Bullock (1993) schreibt beispielsweise (zunächst) über Hitler, dass er seitens seiner Eltern „nie schlecht behandelt“ wurde. (vgl. Bullock, 1993, S. 18ff) Einen Absatz weiter weist er allerdings (widersprüchlich gegenüber seiner ersten Aussage) auf die autoritäre und selbstsüchtige Art von Alois Hitler (Hitlers Vater), dessen rücksichtlose Art gegenüber seiner Ehefrau und seinem verständnislosen Umgang mit seinen Kindern hin. Außerdem erwähnt er die überfürsorgliche, liebevolle Mutter von Hitler. Dazu sei angemerkt, dass auch „Überfürsorge“ und „Idealisierung“ destruktiv gegenüber dem Kind wirken kann, z.B. dadurch, dass das Kind nicht als eigene Person gesehen wird und Objekt von elterlichen Projektionen wird.
Arno Gruen beschreibt dagegen ausführlich die gestörte Mutter-Kind-Beziehung Hitlers (vgl. Gruen, 2002a, S. 65ff). Wurde Hitler also doch „schlecht behandelt“? Bullock hält von „psychologischen Erklärungen des Phänomens Hitler“ nicht all zu viel und dies 1. auf Grund mangelhafter Daten und Zeugnisse, wie er sagt und 2. würde man - so man denn eine starke Persönlichkeitsstörung/-beeinträchtigung bei Hitler „unterstellen würde“ - sich fragen müssen, wie denn trotz dieser gestörten Grundlage sein späterer „außerordentlicher Erfolg“ zu erklären sei. (vgl. Bullock, 1993, S. 24ff) Dem ist zu entgegnen, dass nach klinischen Erfahrungen auch schwer traumatisierte Menschen in bestimmten Bereichen absolut erfolgreich „funktionieren“ können (z.B. im Beruf). Der Psychiater und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz stellt sogar die These auf, dass die Anstrengungen für „hervorragende menschliche Leistungen“ - auf welchem Gebiet auch immer - oft aus einem Antrieb aus früher Not und Bedürftigkeit gespeist werden. Der Erfolg, der Ruhm und die Macht sollen helfen, schmerzvolle Erinnerungen und bittere Erkenntnisse zu vermeiden oder zu mildern. (vgl. Maaz, 2002)
Ist es nebenbei bemerkt nicht schon zynisch, in Bezug auf Hitler, seinem Wirken und Handeln von einer „unterstellten“ Persönlichkeitsstörung zu sprechen statt einer realen? Außerdem ist hier – wie ich finde - auch die Frage in die umgekehrte Richtung erhellend: Ist es überhaupt möglich, dass ein wirklich geliebtes Kind zu Taten fähig wäre, wie sie ein Hitler begangen hat?
Ich finde es auch interessant zu erwähnen, dass der Biograph Bullock die Herkunftsgeschichte von Hitler und Stalin zusammen in einem Kapitel mit ca. 20 Seiten behandelt, von denen sich wiederum nur wenige Absätze mit der Gewalt gegen die beiden Kinder und den möglichen Folgen beschäftigen. Demgegenüber steht sein Gesamtwerk von ca. 1.300 Seiten (!), in denen er die beiden „parallelen Leben“ (so der Buchtitel) ausführlich skizziert. Die Parallelität der beiden Kindheiten hebt er auch während dieser 20 Seiten nicht besonders hervor, sondern behandelt beide getrennt voneinander. Alan Bullock ist kein Psychologe, sein Interesse gilt der Historie. Ich finde diese Gewichtung und das Ausblenden der Folgen der erlittenen Gewalt für beide Diktatoren allerdings bezeichnend für das kollektive Verleugnen dieser Zusammenhänge.

Ein weiteres Beispiel dieser Art, zeigt die berühmte Arbeit des bekannten Psychologen Erich Fromm "Anatomie der menschlichen Destruktivität". Fromm schreibt:
„Der Charakter der Eltern und nicht dieses oder jenes einzelne Erlebnis übt den stärksten Einfluss auf ein Kind aus. Für jemand, der an die stark vereinfachende Formel glaubt, dass die schlechte Entwicklung eines Kindes etwas der „Schlechtigkeit“ seiner Eltern proportional ist, bietet die Untersuchung des Charakters von Hitlers Eltern eine Überraschung, denn – soweit aus den uns bekannten Daten zu ersehen ist – waren sowohl sein Vater als auch seine Mutter stabile, wohlmeinende und nicht destruktive Leute. Hitler Mutter Klara scheint eine gut angepasste, sympathische Frau gewesen zu sein. (…) Man hat Alois Hitler gelegentlich als einen brutalen Tyrannen beschrieben – vermutlich deshalb, weil dies eine einfache Erklärung für den Charakter seines Sohnes wäre. Er war aber kein Tyrann, sondern nur ein autoritärer Mensch, der an Pflicht und Verantwortungsgefühl glaubte und der Ansicht war, dass es seine Aufgabe war, das Leben seines Sohnes zu bestimmen, bis dieser mündig war. Soweit bekannt, hat er ihn nie geschlagen. (…) Wie ist es zu erklären, dass diese beiden wohlmeinenden, stabilen, normalen und nicht destruktiven Menschen das spätere „Ungeheuer“ Adolf Hitler zur Welt brachten?“ (Fromm, 1986, S. 417ff) Danach beschreibt Erich Fromm auf mehreren Seiten ausführlich Hitlers Lebensweg, den er in seiner Gesamtheit und auch in Anbetracht der Einflüsse durch seine Umwelt für besonders wichtig hält. Entgegen seinen anfänglichen Ausführungen, ließt sich aus seinen weiteren, einleitenden Beschreibungen über Hitlers Beziehung zu seiner Mutter eine tiefe Störungen heraus. Zusammenfassend schreibt Fromm: Man kann sagen, „dass Hitlers Mutter für ihn nie zu einer Person geworden ist, zu der er eine liebevolle oder zärtliche Zuneigung empfand. Sie war für ihn Symbol der beschützenden und zu bewundernden Göttin, aber auch die Göttin des Todes und des Chaos.“ (ebd., S. 425)
Ich finde viele Gedankengänge und (auch andere) Arbeiten von Erich Fromm wichtig. Seine Arbeit über die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ führt allerding weitläufig in die Leere. Obwohl er selbst Hinweise auf den tyrannischen Charakter von Hitlers Vater wahrgenommen hat und eine gestörte Mutterbeziehung beschreibt, sind beide Eltern für ihn „stabile, wohlmeinende und nicht destruktive Leute“. Er schließt insofern einen bedeutenden Einfluss durch Gewalt und Destruktivität seitens dieser Eltern auf das Kind Adolf Hitler aus. Seine weitere Analyse muss insofern scheitern, vor allem wird dies auch deutlich, wenn wir uns die heutige Datenlage bzgl. der familiären Gewalt in der Familie Hitler ansehen.


Miller (1983) benennt – im Gegensatz zu Bullock und Fromm - mit deutlichen Worten die Struktur Hitlers Herkunftsfamilie als „Prototyp des totalitären Regimes“ und führt Belege bzgl. der häufigen Misshandlungen seitens Hitlers Vater gegenüber Adolf (einmal, im Alter von 11 Jahren, wurde er sogar fast todgeprügelt) und der gestörten Mutterbeziehung Adolfs an, obwohl sie anmerkt, dass es solcher Beweise eigentlich nicht bedürfe, denn „das ganze Leben Adolfs ist ein Beweis dafür“ und ein derartiger Hass habe „erfahrungsgemäß tiefe Wurzeln im Dunkel der eigenen Kindheitsgeschichte“.[2] (vgl. Miller, 1983, S. 169-228)
Auch eine aktuellere Veröffentlichung über "Die unbekannte Familie des Führers" belegt die gewaltvolle Familienatmosphäre bei den Hitlers. „Alois` vorherrschendes Erziehungsmittel sind Prügel.“ (Zdral, 2005, S. 39) „Mein Bruder Adolf (…) erhielt jeden Tag eine richtige Tracht Prügel.“, sagte später auch Adolfs Schwester Klara. (vgl. ebd.) Adolf Hitler prahlte einmal gegenüber seiner Sekretärin: „Als ich eines Tages im Karls May gelesen hatte, dass es ein Zeichen von Mut sei, seinen Schmerz nicht zu zeigen, nahm ich mir vor, bei der nächsten Tracht Prügel keinen Laut von mir zu geben. Und als dies soweit war … habe ich jeden Schlag mitgezählt. Die Mutter dachte, ich sei verrückt geworden, als ich ihr stolz strahlend berichtete: "Zweiunddreißig Schläge hat mir Vater gegeben!" “ (ebd.) An diesem Beispiel wird ersten die Heftigkeit der Prügel deutlich (32 Schläge!) und zweites sehr anschaulich, wie das täglich geprügelte Kind sein Schmerzempfinden abspaltet (und in der Folge auch das Fühlen und Mitfühlen verschüttet wird). Hitlers Mutter wagte nicht, ihren Sohn vor den Schlägen zu schützen, berichtet Wolfgang Zdral.

Adolf wurde als Kind außerdem sehr wahrscheinlich Zeuge der väterlichen Gewaltexzesse gegenüber seinem älteren Halbbruder Alois jr. (vgl. Toland, 1977, S. 26) Dieser hatte sich rückblickend bitter darüber beklagt, dass sein Vater ihn „unbarmherzig mit der Nilpferdpeitsche geschlagen“ habe. Einmal wurde Alois jr. so lange mit der Peitsche traktiert, dass er das Bewusstsein verlor. Auch Adolf wurde mit dieser Peitsche geprügelt, allerdings scheint er – nach Toland – um so mehr Ziel väterlicher Gewalt geworden zu sein, als der Halbbruder Alois jr. mit vierzehn Jahren das Haus verließ und nie wieder zurückkam.  Zu dieser Zeit müsste Adolf ca. 7 Jahre alt gewesen sein.
Auch über psychische Gewalt und Demütigungen wird berichtet. Alois Hitler nörgelte z.B. ständig an Adolf herum, überhäufte ihn mit Hausarbeiten, Alois Disziplinierungsversuche kamen häufig vor  und  „jeden Tag überschlug sich sein Stimme“, wie sich die Schwester Paula erinnert. (vgl. ebd., S. 27 + 30) Eines Tages wollte der junge Adolf davonlaufen, worauf hin ihn der Vater in einem der oberen Räume einsperrte. Um nachts durch eine Fensteröffnung entkommen zu können, legte Adolf seine Kleider ab. Doch Alois Senior betrat den Raum und Adolf konnte sich vorher noch mit einem Tischtuch bedecken. „Der alte Herr griff diesmal nicht zur Peitsche; stattdessen brach er in Gelächter aus und rief seine Frau; sie möge doch heraufkommen und sich den „Togajüngling“ ansehen. Dieser Spott traf den Sohn härter als jede körperliche Züchtigung. Helene Hanfstaengl bekannte er später, er habe lange gebraucht, um über dieses Episode hinwegzukommen.“ (ebd., S. 30)

Miller (1983) beschreibt Hitlers Kindheit im Angesicht täglicher Bedrohungen, Demütigungen und Bevormundung als „Hölle“ und „reales Trauma“. Zusätzlich wurde Adolf Hitler Opfer, in dem er unter der Gewalt zwischen Vater und Mutter und dem häufigen Alkoholkonsum seines Vater litt. Zudem waren einst schon die Grundbedingungen seiner Geburt sehr speziell: Er war als erstes Kind nach drei verstorbenen Kindern auf die Welt gekommen. Weitere Schilderungen über Hitlers Kindheit und Trauma würden hier den Rahmen sprengen. (Alice Millers Text über Adolf Hitlers Kindheit ist allerdings auch online komplett zu lesen und muss hier also nicht weiter besprochen werden.) Die Auswirkungen der erfahrenen Gewalt lassen sich nicht nur in seinem zerstörerischen politischen Handeln festmachen, sondern auch im Privatleben z.B. bzgl. seiner häufigen Schlaflosigkeit, nächtlichen Panikattacken, Magenkrämpfen, seinen Perversionen und gestörten Beziehungen zu Frauen.
Sicher ging es vielen Kindern ähnlich, viele Kinder wurden in der Vergangenheit misshandelt und wurden trotzdem nicht zu einem „Hitler“.[3] Miller hat bzgl. der Weitergabe von Gewalt entsprechende Thesen formuliert. Das Kind Hitler hatte offensichtlich niemandem, dem es sein Leid anvertrauen konnte bzw. der dem jungen Adolf widerspiegelte, dass diese erfahrene „Normalität“ nicht richtig ist. Es fehlte ein „Helfender Zeuge“, wie es laut Miller bezeichnend für Massenmörder wie Hitler (und auch Stalin oder auch Mao) ist. (vgl. Miller, 2001, S. 8)
Ein „Helfender Zeuge“ ist nach Miller ein Mensch (Z.B. Nachbar, Grossmutter, Lehrer usw.), der einem misshandelten Kind beisteht (und sei es auch noch so selten), der ihm eine Stütze bietet, einen Gegengewicht zur Grausamkeit, die sein Alltag bestimmt. Dank dieses Zeugen erfährt ein Kind, dass es in dieser Welt so etwas wie Liebe gibt. (vgl. ebd., S. 7ff)
Forschungsansätze aus den USA bestätigen diese These. Zu den Faktoren, die offenbar die Folgen beispielsweise von schwerer Vernachlässigung abschwächen können, zählt in erster Linie der Umstand, dass irgendwann eine einfühlsame Person im Leben des betroffenen Kindes auftaucht, die wirklich an ihm interessiert ist. (vgl. Cantwell, 2002, S. 554) Im Zusammenhang von Kindesmisshandlung weist Seagull (2002) ebenfalls darauf hin, dass der Teufelskreis der Gewalt eher durchbrochen werden kann, wenn misshandelte Kinder eine positive, emotional stützende Beziehung zu einer erwachsenen Person unterhielten, die sie nicht misshandelte. (Außerdem weist Seagull in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung einer umfassenden psychotherapeutischen Behandlung hin, worauf ich später noch zurückkommen werde) (vgl. Seagull, 2002,. S. 251)
Nach der Interpretation von Alice Miller gab es kaum Ambivalenzen in der Eltern-Kind-Beziehung: Adolf Hitler erlebte wohl keine „Lichtblicke“, keine vereinzelten, aufrichtigen Bekundungen von Zuneigung und Zärtlichkeit, die ihm zumindest eine kleine Alternative bot. Ein Kind, das nur Destruktivität erlebt, diese als „Normalität“ verinnerlicht (verinnerlichen muss) und sich an niemandem mit seinem Leid wenden kann, ist im höchsten Maße gefährdet, (später) die Gewalt an andere weiterzugeben und/oder sich selbst Gewalt anzutun. Hitler musste als Kind seine schmerzlichen Gefühle verdrängen und/oder abspalten und sich mit dem Aggressor identifizieren, um dieser Situation zu entgegnen (und um zu überleben). In all dem, was Hitler anderen Menschen antat, geht es, laut Miller, eigentlich um die Ausrottung der eigenen Ohnmacht und um die Vermeidung von Trauer. (vgl. Miller, 1983, S. 221). Machtgewinn und Grandiositätsdenken dienten als Abwehr gegenüber der eigenen Hilflosigkeit, denn vom Machtidentifizierten[4] wird Ohnmacht gefürchtet und bekämpft (bei sich und anderen), weil sie ehemals als Kind das Leben gefährdet hat. (vgl. Bassyouni, 1990, S. 20)
Etwas überspitzt könnte man abschließend schreiben: Menschen wie Hitler können nicht (über ihr Leid) weinen, deshalb bringen sie ihr Umfeld und manchmal auch die ganze Welt zum Weinen.

Adolf Hitler schrieb rückblickend auf seine Empfindungen zu Beginn des Ersten Weltkrieges: „Mir selber kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor. Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, dass ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, dass er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen.“ (zit. n. Vinnai, 2006) Krieg, Mord und möglicher eigener Tod wurden von ihm als „Erlösung“ empfunden und lösten Glücksgefühle aus (und diese Empfindungen teilten mit ihm unzählige ganz „normaler“ Deutsche zu dieser Zeit). Was er wohl mit „ärgerlichen Empfindungen der Jugend“ meinte, von denen er erlöst werden wollte, habe ich oben ausgeführt.
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[1] DER SPIEGEL beispielsweise bringt in gewissen Abständen auflagenstarke Titelthemen zur NS-Zeit. In der Ausgabe 3/2008 mit dem Titel „Der Anfang vom Untergang. Hitlers Machtergreifung.“ und der Einleitung „Vor 75 Jahren wurde ein ehemaliger Obdachloser aus Österreich Reichskanzler: Adolf Hitler. In gut einem Jahr schwang sich der glühende Antisemit und Nationalist zum Diktator der deutschen Großmacht auf. Wie konnte es dazu kommen? Das ist die Königsfrage der deutschen Geschichte.“ wird die NS-Zeit und die Person Hitler rein von HistorikerInnen analysiert. Ich habe bisher seitens dergleichen Medien noch keinen Versuch wahrgenommen, auch einmal PsychoanalytikerInnen zu Wort kommen zu lassen und auch Hitlers Kindheitsgeschichte einzubringen. Dabei denke ich, dass die Zeit dafür reif ist.

[2] siehe auch Gruen, 2002a, S. 63ff

[3] Das Phänomen Hitler ist allerdings zusätzlich nur durch seine Gefolgschaft/Anhänger und gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären, was weiter unten ausgeführt wird. Außerdem bieten menschliche Gesellschaften vielfältige Möglichkeiten, um mit destruktiven inneren Konflikten umzugehen. Der eine geht vielleicht in Therapie und löst die Konflikte, ein anderer nimmt Drogen, ein zweiter misshandelt wiederum seine eigenen Kinder, der dritte wird melancholischer Maler, und ein weiterer erkrankt an Schizophrenie und entflieht somit der bzw. seiner Realität usw.

[4] Machtidentifikation bedeutet, die Gefühle von Schwäche, von Klein-und-bedürftig-Sein, von seelischem Leid, von Unsicherheit und Angst zu verdrängen. (vgl. Bassyouni, 1990, S. 72) A. Hitler: “Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. (...) Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein.“ (zit. n. Miller, 1983, S. 169)


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3.3 Stalin: Ein Diktator, der einst als Kind „zu Stahl geschlagen wurde“

Der Biograph und Historiker Alan Bullock (1993) gibt ein - wenn auch kurzes - Bild davon, was Stalin (echter Name: Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili) als Kind und Jugendlicher an Leid erfuhr. Auch Stalin hatte eine ähnliche Ausgangssituation wie Hitler: Er war das erste überlebende Kind nach zwei Fehlgeburten. Stalins Vater war laut Bullock „ein raubeiniger, gewalttätiger Mann, ein Trinker, der Frau und Kind schlug und kaum den Lebensunterhalt verdiente.“ (Bullock, 1993:, S. 15). Stalins Jugendfreund Iremaschwilli schrieb in seinen Memoiren: „Die ungerechten und schweren Prügel, die er als Knabe bezog, machten ihn so hart und herzlos, wie sein Vater es war. Da er überzeugt war, dass jeder, dem irgend jemand Gehorsam schuldete, seinem Vater gleichen müsse, entwickelte er bald eine tiefe Abneigung gegenüber allen, die ihm übergeordnet waren. Von klein auf wurde die Verwirklichung seiner Rachegelüste zu dem Lebensziel, dem er alles unterordnete.“ (zitiert nach ebd., S. 15)
Auch Neumayr (1995) beschreibt die väterliche Gewalt. Stalins Vater hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, dem kleinen Jossif seinen Eigensinn durch tägliche Prügel, jeweils vor dem Schlafengehen verabreicht, auszutreiben. Ebenso wurde Stalins Mutter häufig Opfer brutaler Prügel durch ihren Mann (vgl. Neumayr, 1995, S. 261) und der junge Josef sicherlich stummer und hilfloser Zeuge dieser Übergriffe.
1890 zerbrach schließlich die Ehe der Eltern. Stalin muss zu diesem Zeitpunkt 11 oder 12 Jahre alt gewesen sein. In diesem Jahr sah der junge Josef seinen Vater zum letzten Mal. Der Vater wurde später zum Landstreicher und verstarb 1909 an Leberzirrhose. (vgl. Kellmann, 2005, S. 9)
Bullock schreibt weiter, dass der junge Stalin durch die „liebevolle Zuneigung“ und „Förderung“ seiner Mutter einen Ausgleich zu den väterlichen Misshandlungen gefunden hätte. Dies würde - trotz der kaum vorstellbaren Verbrechen, die Stalin später begangen hat - der Miller-These vom fehlenden „Helfenden Zeugen“ widersprechen. Bullock selbst bietet Hinweise, die eine andere Sprache sprechen. Stalins Mutter hatte eigene, egoistisch Pläne mit ihrem Sohn. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ihr Sohn Priester werden solle und setzte sich ihm gegenüber – auch entgegen den Vorstellungen des Vaters - eine ganze Zeit durch. Stalin absolvierte letztlich einige Jahre eine Ausbildung zum Priester. Wie einfühlsam und liebevoll ist eine Mutter, die ihren Sohn in einen Beruf zwingt, ohne auf seine Interessen, Bedürfnisse und Wünsche zu hören (und welche Gefühle musste Stalin gegen sie hegen, da er während seiner ungewollten Priesterausbildung erhebliche Verletzungen erlitt - siehe weiter unten)? Aus Bullocks weiteren Schilderungen lässt sich auch schließen, dass Stalin von seiner Mutter stark idealisiert wurde – ähnlich wie bei Hitler – und sie ihm vermittelte, dass er das Zeug für „Großes“ und „Bedeutendes“ hätte. Was für ein realistisches, authentisches Bild von ihrem Kind hat eine Mutter, die selbiges abgöttisch idealisiert? Hirsch (1994) spricht von emotionalem Missbrauch, wenn Eltern ihre Bedürfnisse in den Vordergrund stellen indem sie z.B. das Kind als Substitut des idealen Selbst sehen bzw. dem Kind auferlegen, all die unerfüllten Wünsche und Ideale der Eltern zu verwirklichen. (vgl. Hirsch, 1994: 52ff)

Diese Idealisierung und die Misshandlungen seitens Stalins Vater beschreibt Bullock als prägende Einflüsse, die sich entscheidend auf die Entwicklung von Stalins Persönlichkeit auswirkten. (vgl. Bullock, 1993, S. 17)
Den wesentlichsten Hinweis auf eine gestörte Beziehung zur Mutter bringt Bullock, als er berichtet, dass Stalin nach seiner Revolutionärslaufbahn seine Mutter nur noch wenige Male sah und 1936 nicht einmal zu ihrem Begräbnis erschien. Wie passt dieses Verhalten mit Bullocks Beschreibung einer „liebevollen Mutterbeziehung“ in Stalins Kindheit zusammen? Welche Gefühle musste Stalin gegenüber einer Mutter gehegt haben, die ohnmächtig die Prügel des Vaters duldete (laut Bullock wurde Stalin öfter in Anwesenheit der Mutter verprügelt)?

In einer aktuelleren Biographie über den „jungen Stalin“ weist Montefiore (2007) dagegen deutlich nach, dass Stalin nicht nur von seinem Vater, sondern auch von seiner Mutter häufig misshandelt wurde. (vgl. Montefiore, 2007, S. 66) Als Stalin seine Mutter später mit dieser Gewalt konfrontierte, soll sie nur gesagt haben, dass es ihm ja nicht geschadet hätte.
Auch deMause weist nach, dass Stalin von seiner Mutter geschlagen wurde (und Stalin wiederum seine eigenen Kinder schlug). (vgl. deMause, 2000b, S. 460) Kellmann schreibt einleitend in Stalins Biographie: „Nicht nur der Vater, auch die Mutter schlug ihn. Körperliche Misshandlungen, Jähzorn und Gewalt müssen zu den ersten Wahrnehmungen im Leben jenes Menschen gehört haben, der sich später Stalin nannte.“ (Kellmann, 2005, S. 9) Aber auch ohne diese Informationen hätte Bullock einiges ableiten können, wie oben dargestellt.

Als Biograph eines Diktators ist er (wie auch andere Biographen von Diktatoren) letztlich auch eine Art Gewaltforscher. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass auch Gewaltforscher „blinde Flecken“ haben können und z.T. dazu neigen, traditionelle Mythen und Geschlechtsrollenvorstellungen (gewalttätiger Mann, friedfertige Frau) zu übernehmen. Ich vermute auch, dass während entsprechender Recherchen die Gefahr groß ist, auf die Vernebelungen und Scheinfassaden destruktiver Elternteile einerseits und die (überlebenswichtigen) Idealisierungen der Eltern durch das misshandelte Kind andererseits hereinzufallen. Destruktive Eltern halten bekanntlich vor sich und vor anderen das Bild aufrecht, sie seien die allerbesten und liebevollsten Eltern und alles, was sie tun, würde zum Wohle des Kindes geschehen (selbst wenn dies Gewalt gegen des Kind bedeutet). Entsprechend könnte dies den genauen Blick des Forschers trüben. Eine zusätzliche Frage ist auch, ob nicht manchmal evtl. eigene destruktive Kindheitserfahrungen der Gewaltforscher selbst einige „blinde Flecken“ ausmachen könnten. Zumindest finde ich es naheliegend, dass sich gerade auch Menschen mit eigenen Gewalterfahrungen an die Gewaltforschung machen. Zusätzlich möchte ich an diese „Forschungskritik“ anknüpfen, dass gerade die Kindesvernachlässigung und psychische Gewalt schwerer zu bestimmen und von Außen zu erkennen ist und von Forschern entsprechend (trotz schwerer Folgen für die Kinder) oftmals erst gar nicht in den engeren Blick kommt.

Um zurück zu Stalin zu kommen: Auch Stalins weiteres Leben als junger Mann in einem Priesterseminar war geprägt von Unterwerfungsritualen gegenüber Autoritäten, von Demütigungen durch die Mönche (z.B. ständiges Ausspionieren, Verfolgen, Anschwärzen und Durchsuchen seiner Privatsachen), von Ohnmacht und Gewalt. Fünf Jahre verbrachte er dort bis kurz vor seinem 20. Geburtstag und Bullock kommentiert diese Zeit u.a. mit dem Wort „Überlebenstraining“. (vgl. Bullock, 1993, S. 29) Stalin bedeutet nebenbei bemerkt übersetzt „Mann aus Stahl“. Welch tiefe Angst vor Hilflosigkeit, schmerzlichen Gefühlen und Ohmacht musste „Stalin“ empfunden haben, um sich so stahlhart und mächtig nach Außen zu präsentieren? Wie wenig Mitgefühl mit sich und somit auch mit anderen Menschen muss ein Mensch wie Stalin gehabt haben? Hier wird deutlich, wie Ohnmachterfahrungen in jungen Jahren das Leben eines Menschen entscheidend prägen können.

Am Rande erwähnen möchte ich noch, dass Josef auf Grund vieler Narben im Gesicht als Folge der Pockenkrankheit als „der Pockennarbige“ verspottet wurde. Und in der Pfarrschule von Gori – in die er erst mit 10 Jahren eintrat, vorher war er eher ein Straßenjunge – „sah sich der schäbig gekleidete Junge (…) den Hänseleien der wohlhabenden Weinhändler- und Bauernsöhne ausgesetzt.“ (Kellmann, 2005, S. 10) Als Kind befiel ihn zudem eine Kinderkrankheit nach der anderen und mehrfach verunglückte er auf der Straße. „Er wurde von Karren überfahren, brach sich die Beine und holte sich eine Blutvergiftung durch offene Wunden, die den linken Arm derartig lähmte, dass der spätere Oberbefehlshaber der Roten Armee auf Dauer wehrdienstuntauglich blieb.“ (ebd.) Ob die vielen Krankheiten und Unfälle bereits etwas mit (unbewusster) Selbstzerstörung als Folge der elterlichen Misshandlungen zu tun hatten, sei dahin gestellt. Weitere Niederlagen waren diese Erfahrungen und die Hänseleien durch andere Kinder alle mal.

Montefiore (2007) kennzeichnet Stalin übrigens mit Blick auf seine jungen Jahre als Kriminellen, der weder vor Bankraub, Schutzgelderpressung und Entführung noch Mord zurückschreckte. Van der Kolk. & Streeck-Fischer (2002) berichten aus einer Studie, dass 82 % der untersuchten Straffälligen als Kind misshandelt wurden (vgl. Kolk. / Streeck-Fischer, 2002, S. 1022ff) und Garbarino & Bradshaw (2002) stellen bzgl. Häufigkeitsstudien fest, dass 72 % bis 93% aller jugendlichen Straftäter körperliche Gewalt in der einen oder anderen Form erlebt haben. (vgl. Garbarino / Bradshaw, 2002 S. 911) Studien über jugendliche Mörder ergaben, dass 90 % nachweislich aus Familien mit gravierender emotionaler, physischer oder sexueller Missbrauchsvergangenheit stammen. (vgl. deMause, 2005, S.113)
Im „Handwörterbuch der Kriminalität“ heißt es: „Die Erfahrung schwerer Gewalttätigkeit im Elternhaus steht in enger Beziehung zu dem Auftreten von sozialabweichendem Verhalten und Kriminalität im Kinds-, Jugend- und Erwachsenenalter.“ (Schneider, 1998, S. 338)
Einen Zusammenhang zwischen selbst erlittener und später selbst ausgeübter Gewalt bzgl. Straftätern zu untersuchen und festzustellen, fällt der Forschung nicht all zu schwer. Solche Ergebnisse dürften auch in der Gesellschaft relativ wenig Aufsehen und Gegenkritik bewirken. Systematische Untersuchungen bzgl. Diktatoren und destruktiven politischen Entscheidungsträgern und Versuche, dergleichen Zusammenhänge auf diese zu übertragen, scheinen dagegen allem Anschein nach bisher in der (Gewalt-)Forschung eher wenig von Interesse zu sein. Mein persönlicher Eindruck ist auch, dass dort, wo vereinzelt auf solche Zusammenhänge hingewiesen wird, im Allgemeinen mit starker Kritik und Verleugnung reagiert wird. Dass ein einfacher Krimineller evtl. auf Grund seiner (Kindheits-)Geschichte so wurde, leuchtet vielen ein, aber einen Diktator (also einem politischen Kriminellen) mit der selben Schablone zu untersuchen, dass sei Schwachsinn und zu vereinfacht. Ist dem wirklich so?



Über Stalins Verbrechen und die Millionen Opfer seiner Diktatur ist viel geschrieben worden. Eine Information möchte ich noch anbringen: Stalin selbst hat seine Kinder geschlagen, so wie er einst geschlagen wurde (wie bereits oben erwähnt). DER SPIEGEL (vgl. Nr. 24, 11.06.2011, S. 65) schreibt, dass Stalins zweite Frau sich das Leben genommen hat, ein Sohn wurde zum Trinker, der andere wollte sich das Leben nehmen. Als das scheiterte, spottete Stalin "Haha, danebengeschossen!" Die Gefühlskälte und die Destruktivität eines politischen Führers wirft eben immer auch ihre Schatten auf das Private und die Familie. Menschen wie Stalin zerstören alles, was sie zerstören können. Da sie nie einen Hauch von Liebe und Zuwendung erfuhren, kennen sie nur die Rache und den Hass, sie kennen keine Gnade und kein Mitgefühl. Ihre Sprache und ihr Handeln ist vergiftet, so wie ihre Kindheit vergiftet war. Was wir in Menschen wie Stalin sehen, ist das Bild eines Menschen, der aber im Grunde wie eine Maschine ist und handelt und alles menschliche, zärtliche, liebevolle, lebendige und emotionale verloren hat.

Natürlich reicht die Psychopathologie der Regierenden nicht aus, um Kriege zu ermöglichen. In den nachfolgenden Kapiteln gehe ich ausführlich auf die Bedeutung von emotionalen Problemen bei Soldaten und im Volk ein. Ein psychisch kranker „Führer“ sagt letztlich viel über das emotionale Leben der Bevölkerung aus bzw. er verkörpert – mit den Worten von deMause - die kollektiven emotionalen Probleme seines Volkes.



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Sonntag, 26. Oktober 2008

4. Die Soldaten: Gewalt und Gehorsamsforderung in der Familie ist das Fundament für das Militär und kriegerische Ziele

Um Krieg führen und Terror verbreiten zu können braucht es Menschen, die bereit sind, andere Menschen direkt zu töten und zu quälen. In welchem Zusammenhang steht jetzt diese Bereitschaft zu Krieg bzw. blindem Gehorsam (ggf. trotz inneren Widerwillens) mit eigenen Kindheitserfahrungen?
Es gibt dazu einige sehr anschauliche Beispiele. Z.B. wurden die Securitas-Truppen des damaligen rumänischen Diktators Ceausescus, die grausam gegen das rumänische Volk vorgingen, aus ehemaligen Waisenhäusern rekrutiert. Gezielt wurden diese Kinder, deren Leben von Liebesentzug und Hoffnungslosigkeit geprägt war und deren Überleben von der erfolgreichen Unterdrückung ihres Schmerzes abhing, zum Töten erzogen. (vgl. Gruen, 2002b, S. 12)
Gezielt Waisenkinder für Gewaltakte zu trainieren, ist offenbar kein Einzelfall. In Sri Lanka wurden z.B. seit Mitte der 80er Jahre junge tamilische Mädchen, oftmals Waisen, systematisch von den oppositionellen "Befreiungstigern für Tamil Eelam" rekrutiert. Als "Birds of freedom" bezeichnet, wurden sie als Selbstmordattentäterinnen trainiert, weil sie die Sicherheitsmaßnahmen der Regierung besser unterlaufen konnten. (Globaler Bericht über Kindersoldaten, 2001)
Auch bzgl. Kindersoldaten gibt es solche Beispiele, wo Kinder gekidnappt, vergewaltigt und schließlich dazu gebracht wurden, wie Roboter andere Menschen zu ermorden. Dieser Sozialisierungsprozess auf Grundlage von Gehorsam und Terror zeigt deutlich, wie sehr die Auslöschung von Angst, Verletzlichkeit und Scham beim Kind durch Bestrafung zum Werkzeug des Unterdrückers werden kann. (vgl. Gruen, 2002b, S. 13)
Ein Bericht enthüllt, wie während der Ausbildung zum Elitesoldat von den Ausbildern gezielt Männer herausgesucht werden, um diese zu Folterern „weiterzuqualifizieren“. „Ein hohes Destruktionspotential, große Gehorsamsbereitschaft und ausgeprägte Selbstwertprobleme scheinen hierfür eine gute Voraussetzung zu sein. Der Aufwand, einen jungen Mann mit stabilen psychischen Voraussetzungen zum Folterer auszubilden, ist viel zu hoch. Insofern ist es einfacher und billiger, Personen auszuwählen, die bereits gewisse Auffälligkeiten in ihrer Persönlichkeit aufweisen. Solche jungen Männer kommen häufig aus ländlichen Gebieten und haben keine gute Ausbildung genossen. In ihrer Kindheit haben sie meist schon Erziehungsmaßnahmen erfahren, die ihr Selbstwertgefühl schwer geschädigt haben, was sie für die geforderten Grausamkeiten prädestiniert.“ (Heckl & Boppel, 1998)
Untersuchungen der Psychiaterin Isabel Cuadros ergaben, dass 60% der kolumbianischen Guerilleros in ihrer Kindheit körperlich misshandelt wurden. (vgl. BRENNPUNKT LATEINAMERIKA, 2005, S. 39) Diese und weitere Informationen über die weit verbreitete familiäre Gewalt und den Kindesmissbrauch in Kolumbien bringen sie zu folgender Schlussfolgerung: „Der Krieg ist nicht, wie häufig behauptet, die Ursache, sondern das Resultat der familiären Gewalt“ (ebd. S. 38) Kolumbien führt seit langem weltweit die Gewaltstatistiken an.
Der NS-Staat und seine Erziehungsideale in Familie und Schule/Jugend sind ein weiteres Lehrstück dafür, wie Kinder und Jugendliche für kriegerische Ansichten und Handlungen gezielt sozialisiert werden können („Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“): Bedingungslose Gefolgschaft, unentwegte Begeisterung, blinder Glaube an die Autorität, Zucht, Opferbereitschaft, Unterwerfung, Vaterlandliebe, Aufgabe der eigenverantwortlichen Identität und weicher (weil schwacher) Gefühle waren die Ideale des Regimes und seiner Anhänger. (vgl. Benz, 1992a) „Jedes Kind ist eine Schlacht.“, so Hitler wörtlich 1934 in einer Rede vor der NS-Frauenschaft. (zit. n. Gruen, 2002a, S. 20) Langendorf (2006) schreibt zur Instrumentalisierung der Kindheit während dieser Zeit: „Die Erziehung sollte die Kinder für den Krieg gebrauchsfertig machen, andererseits wurde der Krieg als Mittel der Erziehung gebraucht.“ (Langendorf, 2006, S. 273) Das nationalsozialistische Erziehungssystem „(...) ist systematisch darauf angelegt, die Bindung zwischen Mutter und Kind zu verhindern und zu einem Machtkampf werden zu lassen, der mit der Selbstaufgabe des Kindes enden muss, das von seinen Grundbedürfnissen abgeschnitten von früh zur Fühllosigkeit erzogen wird. (...) Kinder, die mit solchen Defiziten aufwachsen, sind durch die Ersatzangebote des Staates umso leichter zu manipulieren. Das ungeborgene Kind kann eine sekundäre Geborgenheit darin suchen, dass es dem Führer „gehört“, nicht den Eltern, nicht sich selbst.“ (ebd., S. 278) Ein derart bösartiges und destruktives System, wie es das NS-System war, weiß natürlich auch, wie man Gewalt und Empathielosigkeit erzeugt. Dies sollte gerade auch im Gesamtkontext dieses Textes zu denken geben...

Eine englische Studie von Henry V. Dicks weist auch auf den möglichen Zusammenhang von (sozialisierter) Persönlichkeitsstruktur und politischer NS-Ideologie hin. 1000 deutsche kriegsgefangene Soldaten wurden dabei in den Jahren 1942-1944 befragt. 36 % der Befragten waren Nazis (11 % „aktive“ und 25 % Nazis „mit Vorbehalt“), 40 % waren unpolitisch, 15 % passive und 9 % aktive Anti-Nazis. Die ersten 36 % zeigten eine signifikante Ablehnung von Zärtlichkeit und Muster einer großen Identifikation mit autoritären, bestrafenden und auf Gehorsam bedachten Vätern, ohne dass sie Zweifel oder Kritik an diesen äußerten. Die Gefangenen dagegen, die sich durch eine gute Beziehung zu einer liebenden Mutter auszeichneten, waren auch am wenigsten der Nazi-Ideologie verfallen, während die Männer mit hohen „Nazi-Werten“ keine liebevolle Beziehung zur Mutter oder zu Frauen im allgemeinen hatten. (vgl. Gruen, 2002a, S. 123ff)
Wirth (2006) weist bzgl. des Balkankrieges in den 90er Jahren darauf hin, dass die Massenvergewaltigungen und die besondere Brutalität der serbischen Soldaten eng mit den (durch verschiedene Studien nachgewiesenen) hohen Raten von Inzest, sexuellem Missbrauch und der massiven Gewalt gegen Kinder in der serbischen Gesellschaft verknüpft sind. (vgl. Wirth, 2006, S. 327ff) Traditionell war und ist die häusliche Atmosphäre in vielen Familien der Balkanländer durch ein hohes Maß an Brutalität gegen Kinder und Frauen gekennzeichnet bzw. ist die Familienstruktur patriarchal-autoritär ausgerichtet. Die Rolle des Vaters – und damit auch die der Söhne – ist durch eine unduldsame und aggressive „männliche“ Haltung definiert. Die Erziehung der Söhne steht in der Tradition eines „männlich-aggressiven, kämpferischen Volkes“ und hat zum Ziel, aus den Knaben „mutige Krieger“ zu formen, deren „Clan-Gewissen“ durch die Auffassung charakterisiert ist, nur ein Soldat sei ein richtiger Mann. „Mannesehre und Heldentum bilden die Grundpfeiler des Normen- und Wertesystems bei den Kulturen des Balkan.“ (ebd., S. 326)
Puhar (2000a) beschreibt ausführlich die Geschichte der Kindheit und deren weiteres Nachwirken im ehemaligen Jugoslawien: „Meine Arbeit enthüllte eine Welt, in der Babys straff gewickelt wurden und die von Magie und Aberglauben regiert wurde, dominiert von bösen Geistern, welche Projektionen der elterlichen Böswilligkeit darstellten. Babys konnten nur "gerettet" werden vor diesen projizierten dämonischen Gefühlen, indem auf sie gespuckt wurde, oder indem man sie an einem Fuß, kopfunter, über ein offenes Feuer hielt oder für eine kurze Zeit in den Ofen schob. Wie bei Kindern im Mittelalter wurde an den Brustwarzen der Babies so oft gesogen und herumgezogen, dass sie sich bald entzündeten, blutig und gangränös wurden. Als die Kinder aufwuchsen, wurden sie den üblichen mittelalterlichen Bestrafungen unterworfen: sie wurden zusammengeschlagen, mussten Urin trinken, wurden mit brühend heißem Wasser begossen, und so weiter. Diese unangenehmen Tatsachen der Kindheit waren Realität im Slowenien des neunzehnten Jahrhunderts, aber sie sind immer noch Realität in großen Teilen des übrigen Jugoslawien im zwanzigsten Jahrhundert.“ (Puhar, 2000a, S. 108) Puhar schildert (im historischen Rückblick, aber mit aktuellen Bezügen) die Lebenswirklichkeit im ehemaligen Jugoslawien als ein Leben der Grausamkeit und Destruktivität, voll von Hass und Misshandlung. Die Folge wäre „eine Haltung fatalistischer, würdevoller Resignation, kombiniert mit militanter Aggressivität und gefühlloser Brutalität.“ (ebd., S.135; siehe ausführlich zur familiären Gewalt auf dem Balkan auch Puhar 2000b)
Interessant ist auch, dass Puhar die (offiziellen) Säuglingssterblichkeitsraten (als grobe Indizes des Standes der Sorge um die Kinder) von 1989 zur Analyse für politisches Verhalten bzw. zur Differenzierung heranzieht. Säuglingssterblichkeitsraten auf 1000 Einwohner: Slowenien (8,5), Kroatien (12,7), Montenegro (15), Bosnien (19,9), Serbien einschließlich Kosovo (20,2), Mazedonien (37,9), und Kosovo (50,7). Entsprechend verliefen die kriegerischen Auseinandersetzungen entlang dieser Linie, mit den geringstem Gewaltaufkommen in Slowenien („nur“ 10 Tage Kampf), mit einer erheblichen Steigerung in Kroatien, mit einer Explosion der Gewalt in Bosnien bis zu einem „völlig selbstmörderischen“ Krieg der Serben. (vgl. ebd., S. 110ff)

Bzgl. Slowenien – das Land mit dem niedrigsten Gewaltaufkommen während des Bürgerkrieges – fällt insbesondere auch auf, dass in diesem Teil Jugoslawiens nie die kommunalen oder Gemeinschafts-Familien (bekannt als Zadrug), vorherrschend waren. Dieser Familientyp „(...) bedeutete ein Leben der konstanten Kriegführung“ (vgl. Puhar, 2000b, S. 144; siehe ausführlich zur Zadrug auch Puhar, 2000a) „Während zur Jahrhundertwende die Eltern in den meisten Teilen Europas auf Disziplin, Ordnung, Sauberkeit und Leistungswillen insistierten (und diese Ziele nach und nach mit immer weniger strengen Methoden erreichten), galt für das einfache Leben in den sogenannten Zadrugas des Balkan das Gegenteil.“ Puhar, 2000b, S. 144) Kurz gesagt: In Slowenien entwickelten sich – im Gegensatz zum restlichen Jugoslawien - fortschrittlichere Erziehungspraktiken und es ist naheliegend hier Zusammenhänge zur verminderten Gewaltbereitschaft während des Balkankrieges zu sehen.

In neueren Zeiten ist der internationale Terrorismus eine große Bedrohungen für den Frieden. Wirth (2006) weist dazu auf den Zusammenhang von frühen und häufigen Traumatisierungen und Terrorismus hin. „Wir wissen einiges über die Selbstmordattentäter unter den Palästinensern. Vor allem die Jugendlichen, die sich für die Selbstmordattentate zur Verfügung stellen, sind von Kindesbeinen an einer permanenten Traumatisierung ausgesetzt. Sie erfahren ihr ganzes Leben lang extreme Formen von Gewalt, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Das hat sie abstumpfen lasen.“ (ebd., S. 376) Dazu kommt laut Wirth auf Grund des enormen Ausmaßes der Gewalt auch eine kollektive Traumatisierung der kollektiven Identität der Gruppe. Dies treibt viele zum Fanatismus und in entsprechende terroristische Ausbildungslager. Die künftigen Selbstmordattentäter werden dort systematisch extremen psychischen und körperlichen Belastungen ausgesetzt, „die an Methoden der Gehirnwäsche, der Folter und der „künstlichen“ Traumatisierung erinnern. (...) Unter solchen Exrembelastungen kommt es zu einer Traumatisierung bzw. Retraumatisierung, die mit intensiven Gefühlen der Angst, der Scham, der narzisstischen Entwertung, der Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden ist. Als Ausweg bietet sich nun die vorbehaltlose Identifikation mit der Gruppe, dem Führer und der Gruppen-Ideologie an. Ergebnis ist ein fanatischer Anhänger, ein heiliger Krieger, der alles „Gute“ ausschließlich in der Sekten-Ideologie findet und alles „Böse“ und Hassenswerte auf den Feind abgespalten hat.“ (ebd., S.378ff; siehe dazu auch 4.1)
Auch deMause hat eindringlich auf die „extrem missbrauchenden Familien der Terroristen“ hingewiesen. (vgl. deMause, 2005, S. 39ff) Kinder, die heranwachsen, um islamische Terroristen zu werden, sind laut deMause Produkte der innerfamiliären Gewalt und eines frauenfeindlichen, fundamentalistischen Systems. „Von Kindheit an ist den islamischen Terroristen beigebracht worden, jenen Teil in sich selbst umzubringen – und in weiterer Übertragung auch bei anderen -, der selbstsüchtig ist und gerne persönliches Vergnügen und Freiheiten hätte. Bereits in ihren von Gewalt und Schrecken beherrschten Elternhäusern –und nicht erst später in den terroristischen Trainingscamps – lernen sie von Anfang an, Märtyrer zu sein und für Allah zu sterben.“ (ebd., S. 42ff)

Am deutlichsten wird o.g. These - „Gewalt und Gehorsamsforderung in der Familie ist das Fundament für das Militär und kriegerische Ziele“ – allerdings durch zwei (qualitative) Studien belegt: Mantell (1978) und weiter unten nachfolgend Roeder (1977).
Mantell kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Erziehungsstile im Elternhaus zwischen den von ihm untersuchten Kriegsdienstverweigerern und Kriegsfreiwilligen (US-Spezialeinheit: Green Berets) signifikant unterscheiden. (vgl. Mantell, 1978) Das Familienleben der Kriegsdienstverweigerer wurde von den Befragten als überwiegend ruhig, freundlich, entspannt und sanft, ebenso wie stabil und sicher geschildert. Jedem Familienmitglied wurde große Bewegungsfreiheit und Ausdrucksfähigkeit zugestanden. Keiner der Befragten wurde körperlich schwer bestraft. Der Großteil wurde selten oder nie geschlagen. Zudem wurde in der Familie allgemein die „humanitäre Sozialethik“ und individuelle soziale Verantwortung betont und gleichzeitig auch gelebt.

Der Erziehungsstil bei den Kriegsfreiwilligen war dagegen autoritär, kalt und brutal. Mit der Ausübung körperlicher Strafen wurde in den jeweiligen Situationen meist gnadenlos – teilweise sogar verstärkt - fortgefahren, selbst wenn die Kinder schon offen ihr Leid zeigten. Es gab zudem wenig Raum für eigene Gefühle und Meinungen. Feinfühligkeit und Zärtlichkeit wurde in diesen Familien vor allem für Jungen/Männer als Zeichen der Schwäche gesehen und unterbunden. Äußerlich waren diese Familien intakt, gefestigt und sozial akzeptiert, was der inneren Wirklichkeit allerdings nicht entsprach. (vgl. ebd., S. 38ff+73)
Während ihrer Kindheit kamen diese Kriegsfreiwilligen mit einem Wert- und Erziehungssystem in Berührung, das mit dem (späteren) Militärleben gut zu vereinbaren war. Interessant ist auch, dass die überwiegende Mehrheit der Freiweilligen der Meinung war, ihre Eltern hätten sie „gut erzogen“, der Grossteil hielt die Eltern sogar für „immer gerecht“. Dieser Idealisierung stehen die geschilderten Erfahrungen gegenüber. Außerdem hatte kein einziger der erwachsenen Befragten eine enge Beziehung auch nur zu einem Elternteil. Die Gefühle ihren Eltern gegenüber reichten vom einem vagen Gefühl bis zu völliger Distanz. (vgl. ebd., 128ff) Die Idealisierung der Eltern diente offensichtlich der Abwehr schmerzhafter Gefühle. Die Beziehungen der Freiwilligen zu anderen Menschen war auch allgemein oberflächlich, ungebunden und utilitaristisch. Sie interessierten sich selten für die Gefühle anderer, so wie sich früher niemand für ihre Gefühle interessiert hatte. Ihnen fehlte offensichtlich die Fähigkeit zu Mitgefühl. Dementsprechend sahen sie sich auch als „gemietete Gewehre“, als bezahlte Killer, die sich keinen Gedanken darüber machten, für wen sie arbeiten und wen sie eliminieren. (vgl. ebd., S. 164 + 265)
Nachfolgend möchte ich im Kontext von Familie und Militär/Krieg ein etwas längeres, eindrucksvolles Zitat von Mantell anbringen, das wie kein anderer Text meiner Recherchen zum Ausdruck bringt, wie sehr die Ausschaltung des Mitgefühls vom Militär gewollt ist, damit Krieg überhaupt funktionieren kann und wie die Familie den Grund und Boden dafür liefert. (Mantell wurde von einem Oberst des entsprechenden Militärstützpunktes gebeten, die psychologische Situation der Soldaten zu erläutern):
„Mantell: Der Soldat in den Special Forces war seit früher Kindheit an sehr harte, strenge und willkürliche Disziplin gewöhnt (...) in Form von Peitschenhieben, Einschüchterungen, Schlägen (...) In Ihren Familien gab es wenig bis keine Wärme (...) Strafen nahmen gewalttätige Formen an (...) Da gab es Waffen in der Familie (...) Sie sind seit früher Kindheit an die Verwendung von Waffen gewöhnt (...) Sie haben gejagt und die Waffen verwendet, um zu töten (...) Sie hatten keine starke Bindung an irgend etwas außerhalb der Familie (...) Die Familien waren isolierte Einheiten (...) Es gab keine positiven emotionalen Bindungen innerhalb der Familie, die zum Ausdruck gebracht wurden (...) Obwohl sie während der Jugendzeit häufig Geschlechtsverkehr hatten, hatten sie keine emotionalen Bindungen an diese Mädchen (...) Sie gaben nicht an, tiefe Freundschaften mit irgend jemandem gehabt zu haben (...) Der Armeedienst macht ihnen Spass (...) Sie respektieren alle Zweige der Exekutive und wissen deutlich, was ihnen passieren kann, wenn sie etwas Kriminelles tun (...) Sie haben viele Menschen getötet, Männer, Frauen und Kinder in Vietnam und haben keine Schuldgefühle oder Alpträume (...)

Oberst X: Wissen Sie, Sie haben den Amerikanismus in seiner besten Form beschrieben. Aber irgendwie haben Sie ihn verdreht, so dass es fast abschätzig klingt. Wir sind so stolz, diese Art von Individuum in den Special Forces zu haben, es ist unglaublich.“ (ebd., S. 302)

Die bundesdeutsche Untersuchung von Roeder (1977), in der 49 Soldaten und 52 Verweigerer mehrstündig befragt wurden, ergab ein sehr ähnliches Ergebnis, das ich ebenfalls relativ ausführlich darstellen möchte. In der Untersuchung wird deutlich, in welchem hohen Maße die Familie und die jeweiligen Erziehungsstile die spätere Einstellung zur Gesellschaft und insbesondere auch zur Bundeswehr bestimmen können.
Die untersuchten Freiwilligen sahen sich als Kind mit strengen Verhaltensrichtlinien und Gehorsamsforderungen durch ihre Eltern konfrontiert. Selbstständiges Verhalten und Denken der Kinder war nicht erwünscht. Es gab körperliche Strafen (die Eltern betrachteten körperliche Züchtigungen als normales Erziehungsmittel) und vor allem auch sparsame Zuwendungen, um die Anpassung des Kindes an ihre persönlichen Bedürfnisse zu erreichen. In einem Fallbeispiel - Günter L. – kam die Bedeutung psychischer Gewalt anschaulich zur Sprache. G.L.: „Das Schlimmste war immer, mein Vater hat an sich wenig geschlagen, aber das Schlimmste war immer, wenn meine Eltern dann nicht mit mir geredet haben, das war für mich das Schlimmste.“ (Roeder, 1977, S. 91) Der Vater hat nach G.L.`s Aussage bis zu einer Woche (!) lang nicht oder kaum mit ihm gesprochen, um eine Unterwerfung zu erreichen. Hier wird zum Einen deutlich, wie extrem verletzend psychische Gewalt wirken kann. Zum Anderen werden mögliche Forschungsfehler aufgezeigt. Günter L. ist nach eigener Aussage relativ wenig geschlagen worden. Da bei wissenschaftlichen Befragungen i.d.R. die psychische Gewalt nicht oder kaum abgefragt wird, wäre er bei anderen Untersuchungen als der von Roeder evtl. als „selten misshandelt“ eingestuft worden. Dies hätte zu Verwässerungen im Ergebnis geführt.

Oftmals berichteten die Freiwilligen, dass innerhalb der Familie generell wenig miteinander gesprochen wurde. In keiner Familie der Freiwilligen gab es flexible, demokratische Konfliktlösungen, Widersprüche wurden verleugnet oder bagatellisiert und ihre Austragung durch autoritative Anweisungen oder stillschweigende Manipulation unterdrückt. Die Freiwilligen lassen sich als selbstunsicher charakterisieren, die, da spontanes, innerlich selbstständiges Verhalten innerhalb ihrer Familien nie erprobt wurde, stark abhängig waren von Normen- und Handlungsrahmen. Entsprechend schreibt Roeder: „Es lässt sich sagen, dass bei dem Entschluss, Zeitoffizier oder Berufssoldat zu werden, der strukturelle Aspekt der Bundeswehr dort die größte Rolle spielte, wo in der Herkunftsfamilie ein starres Rollenschema bestand, das dem einzelnen nur geringen Handlungsspielraum gab und wenig Möglichkeiten zur Selbstentfaltung ließ.“ (ebd., S. 88)
Die Freiwilligen erfuhren von ihren Vätern auch mehr oder weniger Gleichgültigkeit und Ablehnung. Auffallend war hier, dass die Freiwilligen trotz weniger positiver Erfahrungen mit ihren Vätern immer wieder versuchten, die Beziehung zu diesen zu beschönigen, ähnliches ergab auch Mantells Untersuchung (Stichwort: „Identifikation mit dem Aggressor“). Roeder schreibt: „Da die Eltern von niemanden in Frage gestellt oder kritisiert wurden, identifizierten sich die Freiwilligen bald mit deren Befehlsgewalt, was unter anderem darin zum Ausdruck kam, dass sie erlittene Strafmaßnahmen billigten, sie als „gesund“ bezeichneten und unter Hinweis auf deren Effektivität rechtfertigten.“ (ebd., S. 100) Die Soldaten nahmen väterliche Gewaltausbrüche letztlich als selbstverständlich hin, diese galt es nicht zu hinterfragen. Entsprechend glaubten die Freiwilligen auch in ihrem späteren Leben, dass es kaum Sinn machen würde, sich sozial oder politisch zu engagieren oder einzumischen. „Die politische Apathie war von der persönlichen Erfahrung geprägt, dass es kaum Möglichkeiten gibt, auf die Umstände der eigenen Existenz grundlegend einzuwirken. Die bevormundende Erziehung (…) schuf hier einen Fatalismus, der alles Gegebene passiv hinnimmt und Wandel nur von Wundern erwartet.“ (ebd., S. 103)
Ähnlich wie in der Untersuchung von Mantell, hatten auch in dieser Untersuchung die Freiwilligen Beziehungsprobleme mit Frauen; eine tiefere, liebevolle Beziehung glückte ihnen kaum. Sie respektierten während ihres Dienstes die Autorität ihrer Vorgesetzten und schwiegen, auch wenn sie Anlass zu Kritik sahen (ähnlich, wie sie in ihren Familien immer alles hingenommen hatten.). Bei destruktiven Handlungen war es den Freiwilligen wichtig, dass diese formell nicht anfechtbar waren, nach anerkannten Regeln verliefen oder sogar juristisch abgedeckt waren. „Ohne Zweifel lag für sie eine der Attraktionen der Bundeswehr in deren Legitimation von direkter und indirekter Gewalt.“ (ebd., S. 102) Generell ließen sich die Freiwilligen kaum durch das Schicksal anderer Menschen beeindrucken, sie zeigten allgemein wenig Mitgefühl.
Von den Familien, in denen die untersuchten Kriegsdienstverweigerer aufwuchsen, lässt sich ein anderes Bild malen. Hier gab es lebhafte, vielseitige und gefühlsbetonte Kommunikation. Dabei wurde keine Harmonisierung der Beziehungen angestrebt, vielmehr wurde in auffallendem Maße Nichtübereinstimmung bei entscheidenden Fragen der Lebensführung und –einstellung akzeptiert und verbalisiert. In fast jeder Familie gab es ein Vorbild für Zivilcourage und nonkonformistische Entscheidungen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl in diesen Familien war allgemein sehr stark. Eine unanfechtbare Machtposition nahm – im Gegensatz zu den Freiwilligen - keiner der Väter in den Familien der Verweigerer ein. Auffallend ist, dass die Verweigerer sich insbesondere auch mit weiblichen Vorbildern in ihren Familien (Mutter, Großmutter) identifizierten, was eine Distanz zu traditionellen männlichen Verhaltensmustern, bei denen körperliche Kraft und Aggressivität eine Rolle spielt, schuf. Die Verweigerer erlernte relativ früh Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Ihre Gefühlbindungen zu anderen Menschen waren häufig tief. Ihre Grundeinstellung ließe sich am Besten als Solidarität mit den Beherrschten statt Loyalität gegenüber den Herrschenden kennzeichnen. Die Verweigerer zeigten allgemein auch großes Einfühlungsvermögen. Roeder schreibt: „Die Fähigkeit, sich die Folgen eines Krieges in ihrer Bedeutung für die Betroffenen intensiv vorzustellen, war ein entscheidendes Kriterium für die Kriegsdienstverweigerung.“ (ebd., S. 99) und „Es lässt sich sagen, dass die Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung grundsätzlich gefühlsbetont war.“ (ebd., S. 107)
In Einzelfällen - Fallbeispiel „Albert D.“ S. 93ff - kam auch in den Familien der Verweigerer körperliche Gewalt durch den Vater vor. Interessant dabei ist, dass diese Gewalt eher die Ausnahme war und von – in Alice Millers Worten – einem „Helfenden Zeugen“ (i.d.R. der Mutter) offen abgelehnt wurde. Dazu kam in dem Beispiel von Albert D., dass der Vater seinem Sohn von seiner politischen Verfolgung und KZ-Haft berichtet hatte, auf Grund dessen er verbittert sei. Der Sohn verurteilte zwar die selten Schläge durch seinen Vater, brachte diese allerdings auch mit dessen Geschichte in Verbindung. Der Sohn verstand durch diesen offenen Umgang also, dass die Schläge nichts mit seiner Person zu tun hatten (Im Gegensatz dazu lautet erfahrungsgemäß in destruktiven, misshandelnden Familien die offene Botschaft gegen das Kind oftmals „Du bist schlecht und selbst schuld, wenn wir dich misshandeln!“, was i.d.R. erhebliche schädliche Folgen für die entsprechen Kinder hat und eine spätere Aufarbeitung erschwert), sondern mit der Geschichte seines Vaters und dessen Not zusammenhingen.
An diesem Fallbeispiel werden also drei Kernpunkte exemplarisch dargestellt, die für die Folgen und Verarbeitung von erlittener Gewalt meiner Auffassung nach wesentliche Bedeutung haben:
1. Intensität und Häufigkeit der Gewalt gegen Kinder niedrig oder hoch
2. An- oder Abwesenheit eines „Helfenden Zeugen“
3. Offenes Reden über evtl. bedeutende, destruktive Erlebnisse der Eltern oder Verdrängung/„Mauer des Schweigens“ (siehe dazu auch Kapitel
8.4)
Ich meine, dass diese drei Punkte gerade innerhalb der Gewaltforschung größerer Aufmerksamkeit bedürfen. Nach meinem Eindruck werden vor allem Punkt 2. und 3. oftmals übersehen bzw. übergangen.

Beide genannten Untersuchung sind auf Grund der relativ geringen Fallzahlen nicht verallgemeinerbar, können aber explorativ gesehen werden und zeigen einen deutlichen Zusammenhang zwischen Erziehungsstil und späterem Leben und Wirken.
Wenn man sich hineinversetzt in die Situation eines Soldaten in der Ausbildung, dann kommt mir als erstes der Gedanke auf, dass man als Mensch eine solch demütigende Behandlung eigentlich nicht gewohnt sein sollte und dass man diese freiwillig nicht mitmachen würde. Jedem, der einem im Alltag herumkommandieren möchte, demütigt und beleidigt sagt man, dass er oder sie bitteschön doch seinen Tonfall ändern mögen und man lässt solche Menschen einfach links liegen. In der Grundausbildung tun sich tausende Soldaten Tag für Tag und zwar weltweit eine solche Demütigung an, lassen sich Befehle gefallen und sich zum Befehlsempfänger machen.[1] Die Vermutung liegt nahe, dass diese Soldaten eben nicht sagen können: „Ich bin einen solchen Umgang mit mir als Mensch nicht gewohnt!“ und dies vermutlich auf Grundlage von bereits in der Kindheit eingetretenen Grenzen und der Verletzung ihrer Würde. So dass man den Satz im Extrem so umschreiben könnte: „Ich bin es gewohnt, gedemütigt und misshandelt zu werden, dies scheint die Normalität zu sein!“ Finden Soldaten in der Armee also ein „zu Hause“, wie sie es von früher kennen?

Nun ist der Militärdienst nicht in allen Ländern der Welt freiwillig bzw. kann diesem durch Alternativen wie z.B. dem Zivildienst entgangen werden. Doch selbst in totalitären Staaten wie der ehemaligen DDR gab es immer Menschen, die den Dienst an der Waffe trotz zu erwartender Repressalien durch das Regime verweigert haben, entweder durch Totalverweigerung oder durch den Dienstgrad „Bausoldat“. Trotz Geheimhaltung dieses „Dienstgrads“ gab es in der DDR jedes Jahr bis zu 400 „Bau- oder auch Spatensoldaten“, die durch diese Entscheidung ihre Zukunft in diesem Land verwirkt hatten. (vgl. Dokumentation „Dienen bei der NVA – Spatensoldaten“ auf Phoenix, 23.06.07) Für die Kriegsursachenforschung wäre es sicherlich aufschlussreich, solche Menschen, ihre Beweggründe und vor allem auch ihre Erfahrungen in ihren Herkunftsfamilien weiter zu untersuchen. (In o.g. Bericht wurde zumindest erwähnt, dass die „Bausoldaten“ meist christlich und überdurchschnittlich intelligent waren.)



[1] Seit Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht haben in Deutschland mehr als 8,1 Millionen junge Männer Grundwehrdienst geleistet. (Zeitraum 1957 – 2005) (vgl. www.bundeswehr.de / Geschichte der Wehrpflicht)



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