Dienstag, 29. März 2016

Islamistischer Terror. Weitere "Einzelfallbiografien" und der gesellschaftliche Unwille, die Ursachen klar zu benennen

Kürzlich hatte ich von der Kindheit von Kerim Marc B. berichtet, dessen Kindheitsgeschichte für mich nach meinen Recherchen hier im Blog kein Einzelfall darstellt. Ergänzend fand ich aktuell zwei weitere Fälle.

Der Münchner Harun P. (mit afghanischen Wurzeln) ist ca. Mitte 2015 wegen seiner Beteiligung am Terror in Syrien zu elf Jahren Haft verurteilt worden.  Der Mann war der erste Syrien-Rückkehrer, der wegen Mordes vor einem deutschen Gericht stand. (Bayrischer Rundfunk, 15.07.2015, „Elf Jahre Haft für Münchner Islamisten“)
Im Prozessverlauf kamen auch Details über seine Kindheit an die Öffentlichkeit. Das Verhältnis zu seinem Vater beschreibt er so: „Ich konnte es ihm nie Recht machen. Er war keine Bezugsperson für mich und machte alles schlecht, was ich tat.“ (tz, 20.01.2015, Terror-Prozess: "Ich wollte Teil des Heiligen Krieges sein" - von Andreas Thieme) Als Kind sei er von seinem Vater so lange geschlagen worden, "bis meine Mutter dazwischen ging". (focus.de, 20.01.2015, "Dann explodiere ich einfach": Harun P. erklärt den Terror in sich) Aber auch die Mutter war offenkundig - nach dem o.g. tz Artikel - alles andere als friedfertig: „Meine Mutter hat einige Stöcke auf mir zerbrochen. Ich habe als Kind auch gut eingesteckt.“
Als Jugendlicher begann Harun nach eigenen Angaben sich zu ritzen, sprich sich die Unterarme aufzuschneiden. Er bezeichnet sich selbst als depressiv. Später erlebte er weitere Brüche. Das gemeinsame Kind mit seiner Freundin stirbt kurz nach der Geburt, die Beziehung scheitert danach. Er verliert seinen Job und offensichtlich jeden Halt.
In der FAZ wurden die Schilderungen über Haruns Kindheit folgendermaßen kommentiert:
Es war eine Schilderung von großer Offenheit, aber ohne Selbstmitleid, die aber letztlich nicht erklärte, wie es zu seiner Radikalisierung und Unterordnung unter eine islamistische Ideologie kam.“
(faz.net, 20.01.2015, „Die Wut des Harun P. - von Albert Schäffer)
Ich finde solche Anmerkungen immer wieder erstaunlich! Beide Elternteile misshandelten ihn als Kind und trotzdem bleiben dem Journalisten Fragezeichen, wie es zu einer solchen Radikalisierung kommen konnte? Bzgl. dem weit verbreiteten Wegsehen oder eher Augenschließen vor den tieferen Ursachen der Gewalt habe ich am Ende des Textes noch weitere Anmerkungen.

Nebenbei bin ich auf einen weiteren "Einzelfall" gestoßene: Oliver N.
Der minderjährige  IS-Heimkehrer (und Konvertit) ist in Österreich zu 2 1/2 Jahren Haft verurteilt worden.
Die Gerichtspsychiaterin Gabriele Wörgötter skizzierte in diesem Zusammenhang die Kindheit und frühe Jugend des 17-Jährigen, "der in "äußerst desolaten" Verhältnissen aufgewachsen sei und nie die Geborgenheit einer Familie erfahren habe. Dieses Aufwachsen habe eine Persönlichkeitsentwicklungsstörung zur Folge gehabt. Der Jugendliche suche nach Halt und Bindung, die ihm die Familie verwehrt habe. Er sehne sich nach emotionalen Beziehungen. Seine Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühle kompensiere er mit Gewalt und Aggressionen. "Das war die Grundlage für seine Radikalisierung", betonte Wörgötter. Die radikalislamistische Ideologie habe dem "massiv entwurzelten" Burschen Halt und Anerkennung versprochen." (diepresse.com, 15.07.2015, "Wien: Zweieinhalb Jahre Haft für 17-jährigen IS-Heimkehrer") Die Prognose nach der Haft sieht die Gutachterin kritisch, eine Läuterung halte sie für ausgeschlossen. "Ein Einfühlungsvermögen in die Schmerzen anderer hat er nicht." (ebd.)  Was auch immer hinter den Worten "desolate Verhältnisse" in der Kindheit steckt, man kann sich vorstellen, dass es eine Menge destruktiver Erfahrungen braucht, damit ein Mensch sein Einfühlungsvermögen verliert.

Abschließend noch eine Anmerkung zu der ZDF-Sendung von Markus Lanz vom 22.03.2016.
Darin kam auch der Extremismusexperte Asiem El Difraoui zu Wort. Interessant wird es ab ca. Minute 39 und vor allem ab Minute 40 in der Sendung. Die europäischen Dschihadisten hätten von Religion oft gar keine Ahnung, sagt El Difraoui. "Das sind Leute, die haben persönliche Traumas,  die fühlen sich persönlich ausgeschlossen, waren kleinkriminell, zumeist haben die auch riesen Probleme im Elternhaus." Rainer Wendt (Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft) fällt dem Experten dabei ins Wort. "Jetzt sind wir wieder bei der typischen Gerichtverhandlung, wo der Therapeut aufsteht und erklärt, warum der Täter das gemacht hat und man doch bitte auch einen Hauch von Verständnis aufbringen solle." El Difraoui reagiert auf diesen Einwand sehr gut, wie ich finde, indem er darauf hinweist, dass es nicht um Verständnis für brutale Mörder ginge, sondern um die Frage, warum diese jungen Leute zu Mördern wurden, um dies zukünftig präventiv zu verhindern.
Klassisch war in dieser Sendung (man höre genau hin ! - siehe den Beitrag in der Mediathek), dass die Anmerkung über "Probleme im Elternhaus" bereits von dem Einwand des Polizeigewerkschaftes übertönt wurde, man hört die drei Worte kaum noch. Fast in symbolischer Reinform zeigte sich in dieser Sendung ganz beiläufig, dass die Gesellschaft diese Dinge nicht wissen will. Ich bin mir aber auch ziemlich sicher, dass selbst wenn der Experte nicht übertönt worden wäre, es keine konkreten Nachfragen bzgl. dessen, was er den mit "Problemen im Elternhaus" meint, gegeben hätte. An sich ist es schon eine Verniedlichung von "Problemen" in diesem Kontext zu sprechen. Meine Recherchen zum Thema Extremismus zeigen viel mehr, dass man die Dinge ganz deutlich und ganz konkret ansprechen muss: Es geht häufig um schwere Misshandlungen, ständige Demütigungen und schwere Fälle von Vernachlässigung/Verlassenwerden. Oft auch Gewalt durch beide Elternteile, Heimaufenthalte usw.




Samstag, 19. März 2016

Das Märchen von den friedlichen Stammesgesellschaften

Auf Grund eines Artikels in der ZEIT und meiner kürzlichen erneuten Beschäftigung mit dem Buch „Schmerzgrenze“ von Joachim Bauer möchte ich auf ein Thema zu sprechen kommen, das ich bisher im Blog nur nebenbei etwas behandelt habe:
Gewaltbereitschaft und Kindheit in Stammeskulturen bzw. vorzivilisatorischen Zeiten.

In dem ZEIT Artikel wurde vordergründig der Kampf der Tenharim-Indianer (Amazonasgebiet) gegen die Zerstörung ihres Lebensraumes beschrieben. In dem Text steht aber auch folgende Passage, die mich sehr hellhörig machte:
Dass es so viele Untergruppen der Kagwahiva gibt, mag ihrer ausgeprägten Streitlust geschuldet sein. Jahrhundertelang lieferten sie sich brutale Kriege mit Nachbarstämmen wie den Munduruku, mit denen sie eine kulturelle Präferenz für das Abschlagen und Sammeln von Köpfen teilen. Und immer wieder sagten sich einzelne Häuptlinge mit ihren Dörfern und Stämmen vom Rest des Volkes los. So kämpften bald verschiedene Splittergruppen der Kagwahiva gegeneinander. Den eng verwandten Nachbarstamm der Jirahui etwa dezimierten die Tenharim noch in den fünfziger Jahren so gründlich, dass nur fünf Männer übrig blieben, die anschließend mit Tenharim-Frauen verheiratet wurden. Nach erfolgreichen Schlachten haben Krieger traditionell einige Teile der Körper ihrer Feinde gegessen. Die Menschenfresserei gilt bis in das 20. Jahrhundert hinein als wissenschaftlich bestätigt. Einige der Ältesten sagen, dass sie sich an solche Mahlzeiten noch erinnern.“
(ZEIT, 06.03.2016, „Gesetz des Dschungels“, von Thomas Fischermann)

Ein Stamm, der kriegerisch von einem Nachbarstamm fast ausgelöscht wurde? Ein Genozid im Dschungel? Und dann fiel mir beim Lesen dieses Artikels die Schilderungen von Joachim Bauer ein, der sich intensiv mit menschlicher Gewalt in seinem Buch „Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“ (2011) befasst hat.
In eine Fußnote Nr. 279 schreibt Bauer: „Die meisten heutigen vorzivilisatorischen Kulturen lebten bzw. leben ausgesprochen friedlich. (…) Einzelne kriegerische Jäger und Sammler sind die Ausnahme. Sie befinden sich vor allem in Mittel- und Südamerika.“ (Bauer 2011, S. 239)
Sind die im vorgenannten ZEIT Artikel erwähnten extrem kriegerische Stämme also Teile dieser „Ausnahme“, die Bauer meint? Dazu im Textverlauf mehr.

Bauer meint, dass sich beginnenden um ca. 9000 v.u.Z. Neid, Eifersucht und Aggression mit einer ganz neuen Dynamik entwickelte, nachdem ökonomische Prinzipien Stück für Stück immer mehr das Leben der Menschen bestimmten. (ebd., S. 153) Auf den Punkt gebracht formuliert er:
Die Kombination von Ressourcenmangel und Erfindung des Eigentums brachte erhebliche soziale Ungleichheit mit sich. Der Abschied vom egalitären Prinzip konnte sich nicht nur durch ungleiche Verteilung von Ressourcen, Besitz oder Vermögen bemerkbar machen, sondern auch durch unterschiedlich Grade der sozialen Anerkennung. Wer in einem der beiden Bereiche größere Nachteile erlitt, erlebte seine Situation als soziale Ausgrenzung und machte Bekanntschaft mit dem Gesetz der Schmerzgrenze: Ausgrenzungserfahrungen stimulieren den Aggressionsapparat und erhöhen die Wahrscheinlickeit von Aggression.“ (ebd. S. 155) Und noch einmal deutlich unter dem Kapiteltitel „Gewalt als Folge des zivilisatorischen Prozesses“: „Der mit der neolithischen Revolution einsetzende zivilisatorische Prozess war der Beginn eines bis heute andauernden Zeitalters der Gewalt.“ (ebd. S. 160)

Man möchte Bauer zunächst fragen, wie er denn die „Ausnahmefälle“ in Mittel- und Südamerika erklärt? Denn auch diese Stämme leben egalitär und als Jäger und Sammler. Durch welche Prozesse sollte also bei ihnen die Schmerzgrenze des Gehirns gereizt werden?

Ich möchte aber eigentlich gleich anführen, dass Bauer sich nachweisbar irrt. Gewalt ist bei Jägern und Sammlern weit verbreitet und keine Ausnahme. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker hat eine bahnbrechende Arbeit  abgeliefert: „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2011 erschienen im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main) Darin weist er eindrücklich nach, dass Gewalt seit Menschengedenken rückläufig ist und wir uns derzeit in der friedlichsten Phase der Menschheitsgeschichte befinden. Pinker arbeitet vordergründig nicht mit absoluten Opferzahlen, sondern mit Gewalttaten pro 100.000 Einwohnern, was durchaus Sinn macht und auch in der Kriminologie üblich ist. Er befasst sich auch intensiv mit Gewaltraten unter Jägern und Sammlern.

Auf Seite 93 hat Pinker eine vergleichende Tabelle erstellt (!! online siehe Daten von Pinker und anderer Forschender dazu hier: http://ourworldindata.org/data/violence-rights/ethnographic-and-archaeological-evidence-on-violent-deaths/ !!)  Darin wurden archöologische Fundstätten (Auswertung von Skeletten usw.), Untersuchungen bestehender Stammeskulturen, sowie  Staaten ab ca. dem Jahr 1500 bzgl. Todesfällen durch Krieg/Gewalt verglichen. Die höchsten Todesraten finden sich bei Stammesgesellschaften (im Maximum bei 60 % bzgl. der Crow Cree Indianer in Süd-Dakota), die niedrigsten in der modernen Zeit. Die durchschnittlichen gewaltvollen Todesraten lagen bei Jägern und Sammlern bzw. diversen Stammesgesellschaften der Tabelle folgend bei ca. 14 bis 25 %. In der Welt des Jahres 2005 kann man den Balken in der Tabelle gar nicht mehr sehen, er liegt also tendenziell bei annähernd 0.

Pinker ergänzt die Datenlage um eine weitere Tabelle auf Seite 98. Darin vergleicht er jährliche kriegsbedingte Todesfälle bezogen auf 100.000 Einwohner. Auch hier liegen die Stammesgesellschaften weit weit über den Zahlen, die für Staaten erstellt wurden. Die Koto führen die Tabelle an mit fast 1.500 Todesfällen pro Jahr auf 100.000
Einwohner. Der Durchschnitt für die 27 erfassten Stämme beträgt 524 kriegsbedingte Todesfälle im Jahr pro 100.000 Einwohner. Das ist eine Todesquote, an die kein moderner Staat auch nur annähernd in Kriegszeiten heranreicht. Pinker schreibt an einer Stelle: „Zwei ethnographische Übersichtsuntersuchungen zufolge führen etwa 65-70 Prozent aller Gruppen von Jägern und Sammlern mindestens alle zwei Jahre einmal Krieg, 90 Prozent beteiligen sich mindestens einmal in jeder Generation an gewalttätigen Konflikten, und praktisch alle übrigen berichten über kulturelle Überlieferungen, die von früheren Kriegen erzählen.“ (Pinker 2011, S. 99)
Ebenfalls hat der Psychohistoriker Lloyd deMause nachgewiesen, dass Gewalt in Stammesgesellschaften am Häufigsten vorkam/vorkommt, in modernen Demokratien am Wenigsten. (deMause 2005, S. 162-165)  Allerdings hat er - das hat Pinker nicht getan - diesen Gewaltrückgang ursächlich mit der stetigen Weiterentwicklung und Verbesserung der Kindererziehungspraktiken verknüpft. Demnach waren auch in Stammesgesellschaften die Kindheiten die denkbar schlimmsten, was deMause ebefalls nachweist, mit einem besonderen Augenmerk auf die Region Neuguinea. (ebd., S. 194-210; siehe das Kapitel online auch hier http://psychohistory.com/books/the-emotional-life-of-nations/chapter-7-childhood-and-cultural-evolution/)
Er schreibt: „Als ich vor vier Jahrzehnten das erste Mal im Rahmen eines Kurses mit Margaret Mead an der Columbia Universität entdeckte, dass Anthropologen einheitlich der Meinung wären, Kindererziehung hätte sich von einer fördernden und liebevollen zu einer vernachlässigenden und missbrauchenden Art und Weise entwickelt, während der Grad der Zivilisation anstieg, war ich verblüfft darüber, wie irgendjemand gleichzeitig annehmen konnte, Kindheit hätte überhaupt Auswirkungen auf die Erwachsenenpersönlichkeit, da dies bedeutete, dass die Kannibalen, Kopfjäger und Krieger, die ich untersuchte, wahrscheinlich liebende, pflegende Kindheiten hatten.“ (deMause 2005, S. 192)

Aus meiner Sicht und auch Beschäftigung mit der Fachliteratur würde es emotional „unlogisch“ sein, wenn Menschen ursprünglich als Regel eine besonders liebevolle Kindererziehung praktizierten und dann plötzlich, nur weil das Eigentum erfunden wurde, anfangen würden, ihre Kinder zu foltern, zu töten, zu verstümmeln und zu misshandeln. Warum sollten Erwachsene, die als Kind geborgen, gewaltfrei und liebevoll aufgewachsen sind, emotional plötzlich dazu Willens und in der Lage sein, ihren Kindern  all die Formen grober Gewalt anzutun, die in Studien über die Geschichte der Kindheit belegt wurden? Nein, ich bin nach meinen Recherchen fest davon überzeugt, dass eine liebevolle und gewaltfreie Erziehung eine ziemlich junge „Erfindung“ der Menschheit ist. Etwas ganz Neues, was unsere Spezies bisher nicht kannte. Diese langsame stetige Entwicklung von Kindheit nahm vor allem in den letzten Jahrzehnten besonders stark an Fahrt auf. Die Beschäftigung mit der stetigen Evolution von Kindheit löst letztlich auch die Frage, die Steven Pinker in seinem Werk nicht beantwortet hat: Warum menschliche Gewalt in der Geschichte stetig abnahm und weiter abnimmt.


Ergänzend zum Thema verweise ich auf meine Beiträge
-  „Aborigines. Gewalt und Missbrauch. Entzauberung eines Urvolkes?„ und
- "Die Geisterwelt der Simatalu als Folge von Kindesmisshandlung?"

Und noch ein Linkhinweis:

Die Archäologin Angelika Franz hat zu dem Thema einen interessanten Artikel geschrieben: SPIEGEL-Online, 20.01.2016, "Knochenfund in Kenia: Gemetzel am See - vor 10.000 Jahren"
Darin beschreibt sie einen ca. 10.000 Jahre alten Fund, der ein Massaker unter Jägern und Sammlern belegt. Und sie schreibt: "Der älteste nachgewiesene Mordfall der Menschheit fand schon vor 430.000 Jahren im heutigen Spanien statt. Dort entdeckten Forscher in der Sima de los Huesos in der Sierra de Atapuerca den Schädel eines jungen Erwachsenen mit zwei nebeneinanderliegenden nahezu rechteckigen Löchern über der linken Augenhöhle. (...)´Während des Mittelpaläolithikums (300.000 bis 40.000 Jahre vor unserer Zeit) änderte sich offenbar wenig an der Austragung von Konflikten. Sowohl Neandertaler als auch anatomisch moderne Menschen starben immer wieder gezeichnet von schweren Verletzungen, die ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit von Mitgliedern ihrer oder fremder Gruppen zugefügt wurden. Auch im Jungpaläolithikum (40.000 bis 12.000 Jahre vor unserer Zeit) sah es kaum anders aus."

Dienstag, 15. März 2016

Kindheit von Kerim Marc B. Nur ein Einzelfall?

Der als IS-Terrorist angeklagte Kerim Marc B. hat vor Gericht über seine Kindheit gesprochen (danke an Ute für den Hinweis!). Es sind nur kurze Details, die derzeit in den Medien (z.B. welt.de, 14.03.2016, "Mutmaßlicher IS-Terrorist spricht von schwerer Kindheit") besprochen wurde. Aber sie zeigen deutlich, dass dies nicht nur einfach eine "schwere Kindheit" war, sondern ein Alptraum. Bereits als Kind habe er mehrfach kurz davor gestanden, Selbstmord zu begehen (wie verzweifelt muss ein Kind dafür sein?). Sein Vater habe ihn oft geprügelt. Aber auch die Mutter scheint den Andeutungen nach ein eher kaltes Verhältnis zu ihrem Sohn gehabt zu haben.

Nun ist dies ein Einzelfall. Wenn man ihn aber in das einordnet, was ich hier im Blog bereits recherchiert habe (siehe z.B. "Islamistischer Terror und Gewalt. Die notwendige Modernisierung der muslimischen Familie."), dann ist jeder neue "Einzelfall" ein Teil des Ganzen. Ich warte immer noch auf den Moment, ab dem diese "Einzelfälle" endlich zu einer größeren Diskussion um die Kindheitshintergründe von Terroristen und Kriegstreibern führen. Und ich warte immer noch auf den Moment, ab dem endlich die Ergebnisse der UNICEF Studie "Hidden in Plain Sight" politisch eingeordnet werden und dem Nahen Osten wie auch Afrika ein großes Kinderschutzprogramm auferlegt wird, um Krieg und Terror den Nährboden zu entziehen.

Donnerstag, 10. März 2016

Studie aus der Kriminalpsychologie: Vom Opfer zum Täter.

Ich habe kürzlich eine relativ interessante Studie in die Hände bekommen:

Fischer, Gottfried; Klein, Annika; Orth, Alice (2012). Vom Opfer zum Täter. Traumafokussiertes Profiling in der Kriminalpsychologie. Kröning: Asanger Verlag

Zunächst einmal fand ich interessant, dass in der Einleitung einige Studien kurz aufgeführt wurden und - wissenschaftlich sachlich - kommentiert wurde: „Betrachtet man die Prävalenzraten körperlicher und sexuell gewaltvoller Kindheitstraumata unter inhaftierten Gewaltstraftätern im Vergleich zur Normalbevölkerung, findet man – wenngleich die Zahlen in den Untersuchungen aufgrund unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen oder Stichprobenbeschaffenheit z.T. stark variieren – gehäuft höhere Raten von Kindheitstraumaopfern unter inhaftierten Gewaltverbrechern.“ (S. 12)

Für die o.g. Studie wurden 27 männliche Inhaftierte und 19 Frauen aus dem geschlossenen und offenen Vollzug befragt. Die Studie geht im ersten Teil auf viele interessante Erkenntnisse aus der Traumatologie ein. Die Darstellung der Ergebnisse fand ich allerdings wenig gelungen und teils undurchsichtig. Einzig auf Seite 69 werden Ergebnisse bzgl. Kindheitserfahrungen in Zahlen dargestellt:

Männliche Befragte (N = 27)

Körperliche Misshandlung = 4
Sexuelle Gewalt = 3
Misshandlung + sexuelle Gewalt = 10
Keine Gewalt = 10

Weibliche Befragte (N = 19)

Körperliche Misshandlung = 1
Sexuelle Gewalt = 6
Misshandlung + sexuelle Gewalt = 4
Keine Gewalt = 8

Etwa 60 % der Befragten haben also mindestens eine Form der o.g. Gewalt als Kind erlebt. (was deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt.)

Jetzt kommt gleich meine Kritik.

- Die Studie hat die Definition von „Misshandlung“ und „sexueller Gewalt“ nicht dargestellt sondern nur auf das Messinstrument verwiesen.

- Es wurde keine Häufigkeiten angegeben wie oft die Gewalt erlebt wurde (dabei ist dies der mit wichtigste Punkt)

- Im Textverlauf der Studie erfährt man von diversen weiteren Belastungen (Sucht der Eltern, frühes Verlassenwerden in der Kindheit/keine feste Bezugsperson, gestörte Verhältnisse zu Eltern, Inhaftierung eines Elternteils usw.) für 20 gesonderte Befragte. Diese wurden nicht tabellarisch aufgeführt. Es gibt keinen Überblick über  diese weiteren und auch bedeutenden Belastungsfaktoren. Ich kann nicht verstehen, warum dies nicht deutlich aufgeführt wurde, da es offensichtlich abgefragt wurde…

- Mir persönlich fehlten einige ausführliche Fallbeispiele (wie dies in anderen ähnlichen Arbeiten üblich ist). Die Kategorie "Täter wurde als Kind misshandelt" ist letztlich nur eine oberflächliche Information. Erst ein umfassenderes Bild ermöglicht dem Leser auch ein emotionales Verstehen.

In der zweiten Untersuchungsphase wurden jeweils 10 Männer und 10 Frauen gesondert analysiert und in persönlichen Interviews befragt. Nach dem, was ich herausgelesen habe, sind diese 20 Personen eher die, die nach der vorgenannten Tabelle Gewalt in der Kindheit erlebt haben. Beispielsweise sind 7 der 10 männlichen Befragten als Kind Opfer von Gewalt geworden. (S. 72)
Ihre Traumageschichte wurde dann in ein Verhältnis zu ihrem Tatverhalten gebracht.
Dabei kam folgendes zentrale Ergebnis heraus:

- Je früher die Traumatisierung und je komplexer die Traumatisierung, desto höher die Tatdetailüberschneidungen (sprich Wiederholungen des Täterverhaltens dessen Opfer man selbst als Kind war).

Handlunge, Gesten, verbale Ausdrücke, Ort der Taten und der Gebrauch von Waffen, in all diesen Gebieten finden sich deutliche Wiederholungen der eigenen Opfererfahrungen. Eine Stelle möchte ich hier zitieren. „Ein frühkindliches Beziehungstrauma führt zu einer wesentlich höheren und genaueren Detailübereinstimmung als ein lebensgeschichtlich später datiertes Trauma. Probanden, die in der frühen Kindheit eine Traumatisierung durch fortgesetzte körperliche Gewalt erlitten, reinszenieren Details dieser Misshandlung. Liegt eine Traumatisierung durch fortgesetzte körperliche Gewalt und sexuelle Gewalt vor, so werden Details beider Traumatisierungen im Tatgeschehen reinszeniert. Auch mit der traumatischen Situation verknüpfte Erlebnisqualitäten (wie bspw. Dissoziatives Erleben) werden in der Tatsituation reaktiviert.“ (S. 158+159)

Ziel der Studie war letztlich, Ermittlern Hilfestellungen zu geben. Tatmerkmale lassen demnach Rückschlüsse auf das Traumaprofil des Täters zu. Für mich ist die Studie nur begrenzt nützlich, da sie nicht deutlich ermittelt bzw. dargestellt hat, wie viele der Täter welche Arten von Belastungen in der Kindheit, in welchen Schweregraden und wie häufig erlitten haben.