Dienstag, 16. Dezember 2008

Die Irrationalität des Krieges

Kriege haben weitgehend emotionale Gründe (die mit traumatischen Kindheitserfahrungen in direkter Verbindung stehen), so die psychohistorische Grundthese. Damit steht diese These weitgehend entgegen üblichen Darstellungen und Theorien, die Kriege mit rationalem Handeln und gesellschaftlich-politischen insbesondere auch ökonomischen Prozessen in Verbindung bringen.
Die Irrationalität des Krieges lässt sich aktuell sehr gut am Beispiel des Irakfeldzuges festmachen. Dazu vorweg einige Informationen:

Ein Untersuchungsbericht vom November 2006 erstellt von einer Gruppe von Fachleuten genannt „Mental Health Advisory Team" schildert folgendes: „Geradezu erschreckende Resultate förderten die Militärpsychologen im Hinblick auf die ethisch-moralischen Einstellungsmuster der US-Soldaten am Golf zutage. Weit weniger als die Hälfte der Befragten stimmten der Aussage zu, dass die Zivilbevölkerung mit Würde und Respekt zu behandeln sei. Dagegen meinten mehr als vierzig Prozent, dass Folter erlaubt sein sollte, wenn das Leben von Kameraden auf dem Spiel stehe oder wenn es schlicht darum gehe, Informationen zu gewinnen. (...) Immerhin zehn Prozent gaben zu, eigenhändig irakische Zivilisten auf die ein oder andere Weise misshandelt zu haben. Diese Ergebnisse bestätigen Aussagen von englischen Offizieren, die bereits vor geraumer Zeit moniert hatten, das US-Militär würde die Iraker als "Untermenschen" behandeln. Wohlgemerkt: die Briten gebrauchten tatsächlich den deutschen Originalbegriff. (...)“ (NDR Info, „Streitkräfte und Strategien“ (Sendereihe), 25.08.2007: „Überfordert in asymmetrischen Konflikten? US-Soldaten im zermürbenden Kampf gegen Aufständische „Gastbeitrag von Dipl. Päd. Jürgen Rose (Oberstleutnant der Bundeswehr) http://www.bits.de/public/gast/07rose-02.htm)

In einem Einzelbericht des ehemaligen Obergefreiten Joshua Key (Buch "Ich bin ein Deserteur") heißt es: „In den Augen unserer Armee waren die Iraker keine Menschen, sondern Terroristen, Selbstmordattentäter, Sandnigger und Lumpenköpfe. Wir mussten sie geringer achten als Menschen, um überhaupt zu unseren Taten fähig zu sein. In der Militärausbildung brachte man uns bei, die Iraker als minderwertig zu betrachten, und diese Haltung überquerte mit uns die Meere, als wir in den Kampfeinsatz flogen“ (ebd.)Er macht dafür vor allem Defizite in der Ausbildung verantwortlich. Den Rekruten werde jede Regung von Mitmenschlichkeit ausgetrieben. Sie würden zu bedingungslos funktionierenden Kampfrobotern gedrillt.

Die vorsichtige Prognose des Ökonomen und Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz lautet: Angenommen die US-Truppen ziehen sich bis 2012 schrittweise zurück, dann kostet zum Beispiel der weitere Militäreinsatz inklusive Milliardensummen für versehrte Veteranen und Zinsen für Kriegskredite: Insgesamt drei Billionen US-Dollar (vgl. ARD-Magazin „Monitor“, 13.03.2008) Man führe sich diese Summe vor Augen: 3.000.000.000.000 Dollar! (Mit dieser Summe könnte man z.B. auf einen Schlag die gesamte Staatsverschuldung Deutschlands tilgen und hätte immer noch ca. 1,5 Billionen über)
"Wenn man uns vorwirft, dass wir nur die Kosten addieren und nicht den Nutzen einberechnen, dann stimmt das", sagt Stiglitz, "aber es fällt mir schwer, überhaupt Nutzen zu erkennen." Auch die Vorhaltung, man ziehe ja schließlich nicht mit einer fertigen Kostenrechnung in den Krieg, will der Nobelpreisträger nicht gelten lassen: "Es war keine Antwort auf einen Überraschungsangriff wie Pearl Harbor, sondern ein selbst gewählter Krieg, ein präventiver Krieg. Da gehört es zu den demokratischen Spielregeln, offen zu sagen, mit welchen Kosten man rechnen muss." (ZEIT-Online, 26.02.2008, "Der Drei-Billionen-Krieg", http://www.zeit.de/online/2008/09/stiglitz-irakkrieg-kosten?page=2)
Ein Tagesschaubericht vom 31.10.2006 stellt die Kosten so dar: Der Irak-Krieg kostet zwei Milliarden Dollar pro Woche (http://www.tagesschau.de/ausland/meldung91602.html) Berechnet wurden hier offensichtlich nur direkte Kosten.
Diese enormen Ausgaben sind für die USA nie wieder durch Ausbeutung des Irak "reinzuholen". Es ging also nie um ökonomische Gründe!

Ein Team um Gilbert Burnham von der Johns Hopkins School of Medicine im amerikanischen Baltimore hat errechnet, dass zwischen März 2003 und Sommer 2006 im Irak 654965 Menschen an Kriegsfolgen ums Leben kamen. Das wären etwa 600 Todesopfer an jedem Tag. Diese aus Umfragen und Hochrechnungen ermittelte Zahl würde bedeuten, dass 2,5 Prozent der irakischen Bevölkerung seit Kriegsbeginn gestorben sind. Die Forscher hatten in den 16 Regierungsbezirken des Irak 50 Regionen zufällig ausgewählt und dort die Zahl der gewaltsamen Todesfälle erhoben. Dazu wurden fast 13.000 Menschen befragt, ob Familienmitglieder umgekommen seien, und Totenscheine eingesehen. (sueddeutsche.de, 11.01.2007, "600 Tote pro Tag", http://www.sueddeutsche.de/politik/205/362027/text/)
Die Befreiung und der Schutz des irakischen Volkes sind hier offensichtlich auch nicht die Gründe für den Feldzug. Was logisch ist, da ein Feldzug an sich nie die Bevölkerung schützen kann, sondern diese erfahrungsgemäß weit mehr schädigt, als die militärischen Akteure.
Ich fand es - nebenbei bemerkt - auch immer sehr erschreckend, wie Bunker, Paläste usw. im Irak eifrig aus der Luft bombardiert wurden, mit dem Ziel, mögliche Waffenlager auch von Massenvernichtungswaffen zu zerstören. Öffentlich war sich die US-Regierung ja sicher, dass der Irak solche Waffen hatte, auch wenn dies nicht der Wahrheit entsprach, wie wir heute wissen. Wenn aber auch nur eine gewisse Chance bestand, dass dort wirklich entsprechende Waffen hätten lagern können, entschuldigung: Dann widerspricht es jeder Logik, diese Stellungen anzugreifen! Denn die Folgen vor Ort für die dortige Bevölkerung wären verheerend gewesen, wenn dort z.B. nukleare Stoffe und andere extreme Gifte in die Umwelt gelangt wären. Auf solche Weise schafft man sich keinen Rückhalt bei dem irakischen Volk, sondern signalisiert nur, wie egal einem Menschenleben sind.

Solche Berichte enthüllen also exemplarisch wesentliche Aspekte, die mir bzgl. des Irakkrieges durch den Kopf gehen:

Soldaten, die logischerweise (durch extreme, systematische Belastungen in der Rekrutenzeit wie es die USA praktiziert) zum Töten ausgebildet werden, können keinen Frieden stiften und Aufbauhilfe leisten. Letzteres ist in ihrer Ausbildung gar nicht vorgesehen. Das ist eine eigentlich ganz banale Feststellung. Wenn die USA behaupten, sie hätten das irakische Volk befreien wollen (US-Präsident Bush erklärt am 20.03.2003 in einer Fernsehansprache, die militärische Operation zur "Entwaffnung Iraks und zur Befreiung seines Volkes" habe begonnen - siehe Artikel: "Chronik eines angekündigten Krieges"), kann man nicht mal mehr lachen.

Die psychohistorische Forschung weist darauf hin, dass Kriege im Grundsatz nicht aus rationalen Gründen („Wir brauchen Öl, also überfallen wir den Irak“) entstehen, sondern hier emotionale (vor allem unbewusste) Gründe überwiegen. Die obigen Berichte zeigen, dass es eigentlich um das Opfern von Menschen – in diesem Fall insbesondere von dem irakischen Volk, aber auch von den eigenen jungen US-Soldaten – geht. Es geht um das Finden von „Giftcontainern“ für eigene unerträglich (Kindheits-)Traumatisierungen, um sich zu erleichtern (siehe dazu ausführlich deMause, 2005). Lloyd deMause schreibt: „Die gesamte Lehrmeinung der rationalen Entscheidungen der Kriegstheoretiker, alle, die behaupten, Nutzen sei das ultimative Motiv für Krieg, scheitern an den extensiven empirischen Forschungsarbeiten der letzten Jahre über Hunderte von Kriegen, die übereinstimmend zeigen, dass Kriege destruktiv und nicht etwa nützlich sind; dass diejenigen, die einen Krieg beginnen, diesen normalerweise verlieren; und dass Führer, die Kriege ausrufen, sich nie darüber Gedanken machen, ob die Gewinne die Kosten übersteigen. (...) In Vietnam kostete Amerika die Tötung jedes feindlichen Soldaten mehrere hunderttausend Dollar; auch die heutige Welt gibt für Kriegszwecke und zur Erhaltung der militärischen Kräfte jedes Jahr Milliarden von Dollar aus, weit mehr, als durch einen Krieg eingenommen werden könnte. (...) Meine jahrzehntelange Untersuchung von Führeransprachen, die Nationen mitteilten, sie würden in den Krieg ziehen, weist nicht eine auf, wo durch diese Aktion materielle Vorteile versprochen worden wären. Führer versprechen „Opfer“, und nicht Gewinn.“ (deMause, 2005, S. 111)

Ich meine, dass die klassischen Kriegstheoretiker zukünftig über den Tellerrand schauen müssen und das Gebot der Stunde ist, sich mal mit den psychohistorischen Thesen zu beschäftigen!

Freitag, 12. Dezember 2008

Historische Kindererziehungspraktiken und Persönlichkeiten

(Idealtypische) Historische Kindererziehungspraktiken und Persönlichkeiten nach Lloyd deMause, 2005, S. 278ff + S. 183ff


gekürzte Beschreibung:

1a. Früher Infantizidmodus (Schizoide Psychoklasse); Zeit: Tribalismus, Banden und Stämme:
Primitive Elternschaft; sehr wenig Empathie für das Kind; Vater ist grundsätzlich in den ersten Jahren emotional abwesend; offener Inzest; Kindesvergewaltigungen; sehr häufig Kindestötungen; Körperverstümmelungen; Folterungen; emotionale Verstoßung; die Folgen sind zersplitterte Persönlichkeiten, vollkommen unfähig, sich selbst zu lieben; Schizoide können keine engen Beziehungen aushalten und sind folglich nicht in der Lage, höhere Stufen sozialer Organisation, die auf Vertrauen basieren, zu bilden.

1b. Später Infantizidmodus (Narzisstische Psychoklasse); Zeit: Altertum/Antike; von Königtümern bis zu frühen Staaten:
Kindestötungen immer noch häufig, ebenso sind Kindervergewaltigungen weiter Routine; allerdings wird das junge Kind nicht mehr so offen von der Mutter zurückgewiesen und der Vater fängt an, sich mehr mit Anleitungen des älteren Kindes zu beschäftigen; einengende Methoden wie das straffe Einwickeln vom Kleinkind finden Verbreitung, ebenso die Institutionalisierung von Fürsorge in Form von z.B. Ammen, In-Pflege-Geben, Verwendung von Kindern anderer als Sklaven und Diener usw.; das Verprügeln von Kindern ist weniger impulsiv und wird mehr als Disziplinierung verwendet.

2. Verstoßender Modus (Masochistische Psychoklasse); Zeit: Christentum, ab dem 1.Jahrhundert
Ausgehend vom Christentum bringen mehr Eltern ihre Kinder nicht um, sondern verstoßen sie, sowohl emotional als auch durch Weggeben zu Ammen, in Klöster usw.; vom Kind dachte man, es sei voll von Bösen auf die Welt gekommen und so wurde früher und härter geschlagen; vorherrschend war weiterhin eine missbrauchende Kinderfürsorge; jedoch konnten die frühen Christen zum ersten mal in der Geschichte hoffen, von ihren Müttern ein Stück weit geliebt zu werden, wenn sie diesen ihre (masochistischen) Leiden zeigten und deren Mitgefühl erregten.

3. Ambivalenter Modus (Borderline Psychoklasse); Zeit: Mittelalter, ab 12. Jh.:
Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Ambivalenz - Liebe und Hass - gegenüber Kindern ist ein großer Fortschritt in diesem Modus (die ersten Schritte in Richtung Unabhängigkeitsrechte für Kinder); weniger Kinder wurden verstoßen, Gesetze gegen Kindervergewaltigung in Erwägung gezogen, die ersten Kinderschutzgesetze erlassen und die Schulbildung und Kindermedizin erweitert; die meisten Mütter weisen ihre Kinder aber immer noch zurück; das Kind wurde als weniger von Geburt an sündig und böse gesehen; die Verbesserung der Kindererziehung in diesem Modus erlaubte die Entdeckung des Individuums, nach deMause kam der technische und gesellschaftliche Forschschritt dieser Zeit wesentlich durch diese Verbesserungen in Gang.

4. Aufdringlicher Modus (Depressive Psychoklasse); Zeit: Renaissance, ab 16. Jh.: Das straffe Wickeln von Kleinkindern ging zurück, ebenso das Verprügeln und Vergewaltigen; die Wohlhabenden fingen an, ihre Kinder selbst aufzuziehen und erlaubten sich emotionale Bindungen an das Kind; speziell in England (zugleich am fortschrittlichsten entwickelte sich auch die Kindererziehung in Frankreich) wurde versucht, das Wachstum von Kindern nicht mehr zu unterbinden, sondern dieses zu kontrollieren und das Kind gehorsam zu machen; es gab eine aufdringliche Überkontrolle; die Eltern kamen ihren Kindern aber näher und schenkten ihnen mehr Aufmerksamkeit; es gab getrennte Kinderbetten und Lebensweisen; Empathie setzte mit diesem Modus ein, das daraus folgende "Heilen von Dissoziation" und die Zunahme von Individuation brachte nach deMause die religiösen, wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Revolutionen der Zeit hervor; da die Mehrheit der Bevölkerung in Europa allerdings weiterhin aus früheren Psychoklassen bestand, antworteten diese mit Gewalt auf den großen gesellschaftlichen Fortschritt. "Historiker waren lange verwundert darüber, dass in den fortschrittlichsten Jahrhunderten eine Epidemie der Hexerei ausbrach, wenn man aber die Manie als Reaktion auf Wachstumspanik betrachtet, wird dies nachvollziehbar." (deMause, 2005, S. 299)

5. Sozialisierender Modus (Neurotische Psychoklasse); Zeit: Moderne, ab 18.Jh.:
Die Kinderzahl sank bei den meisten Eltern auf auf drei oder vier, weil die Eltern mehr in der Lage sein wollten, ihren Kindern mehr Pflege zuteil werden zu lassen; die elterliche Absicht war weiterhin, den Kindern ihre eigenen Ziele aufzudrücken, insbesondere geschah dies durch psychologische Manipulation und weiterhin auch durch körperliche Gewalt gegen kleine Kinder; das sozialisierte Kind besaß wesentlich mehr Freiheit und Respekt als das in jedem vorausgegangenen Modus; Mütter fingen an, die Fürsorge für die Kinder zu genießen und selbst die Väter begannen, mit den Kindern zu spielen und brachten ihnen Dinge bei; "Der sozialisierende Modus hat die moderne industrialisierte Welt geschaffen und ihre neuen Werte des Nationalismus und der Demokratie repräsentieren die sozialen Modelle der meisten Menschen heute, weil das Ende des Kinderprügelns der sozialisierten Persönlichkeit erlaubt, ihrem Bedarf, sich an einen autoritären Führer zu klammern, zu reduzieren." (deMause, 2005, S. 187)

6. Helfender Modus (Individualisierte Psychoklasse); Zeit: Postmoderne, ab 20. Jh.: Die hauptsächliche Rolle der Eltern besteht in der Hilfestellung für das Kind in jeder Altersstufe, was viel Aufwand, Zeit und Energie bedeutet; das erste mal sind Kinder für die Eltern keine schwierige Aufgabe mehr, sondern eine Freude; sowohl Mutter als auch Vater sind vom Säuglingsalter an gleichwertig mit dem Kind befasst und helfen diesem, eine autonome, selbstbestimmte Person zu werden; die Kinder werden bedingungslos geliebt und werden nicht geschlagen; wenn Eltern unter Stress Fehler begehen und ihre Kinder z.B. anbrüllen, entschuldigen sie sich danach bei ihnen; diese so behandelten Kinder sind wesentlich empathischer gegenüber anderen Menschen in der Gesellschaft als frühere Generationen; "Es ist keine Frage, dass, würde die Welt Kinder nach dem helfenden Modus großziehen, Kriege und alle anderen selbstdestruktiven sozialen Bedingungen, unter denen wir im 21.Jahrhundert immer noch leiden, getilgt sein würden, weil die Welt einfach mit individualisierten Persönlichkeiten gefüllt sein würde, die empathisch gegenüber anderen und nicht selbstdestruktiv wären." (ebd., S. 305)


Diese vorgestellten Kindererziehungsmodi sind laut deMause durch fünf historische Studien und über 100 wissenschaftliche Artikel im Journal of Psychohistory bestätigt worden. (Wie ich in einem Text hier herausgestellt habe, könnte zur Unterstützung dieser Thesen auch die bedeutende Studie von Philippe Aries herangezogen werden, die leider oftmals als gegensätzlich zu deMause dargestellt wird) Heute existieren auch in modernen Nationen Eltern aus allen sechs Kindererziehungsmodi nebeneinander, was gewaltige Konflikte ergeben kann. Die meisten destruktiven Konflikte auf der Welt sind demnach im Grunde "Psychoklassenkonflikte".

Eine Tabelle unter wikipedia.org zeigt die Verteilung der "Psychoklassen" (Tabelle entnommen aus http://en.wikipedia.org/wiki/Psychohistory, ursprüngliche Quelle: DeMause, L. 1982: Foundations of Psychohistory. Creative Roots Publishing. S. 61 + 132–146. (Persönlicher Hinweis: Da diese Tabelle Anfang der 80er Jahre von deMause erstellt wurde, dürfte sich die Verteilung im letzten Abschnitt mittlerweile etwas verändert haben. Schließlich hat sich innerhalb der letzten 30 Jahre enorm viel zu Gunsten von Kindern entwickelt.)


Die Evolution von Psyche und Gesellschaft - folgend dem o.g. idealtypischen Muster - ging laut der psychogenen Theorie in der Geschichte hauptsächlich von sich veränderten Kindererziehungspraktiken aus. Die Vaterrolle ist dabei historisch betrachtet eine sehr späte Erfindung (der Moderne). Frauen (Großmütter, Tanten, Ammen, Dienerinnen usw.) bzw. Mütter waren hauptsächlich für die Kindererziehung verantwortlich. Demnach postuliert nur diese Theorie, dass für den größten Teil der Geschichte Frauen die wesentliche Ursache historischer Veränderungen und von sozialem Forschritt sind. (ebd. S. 177, S. 218) "Was wie ein Wunder scheint, (...) ist, dass Mütter über die gesamte Geschichte hindurch langsam und erfolgreich, ohne große Hilfe von anderen, gegen ihre Angst und ihren Hass ankämpften und es ihnen gelungen ist, die liebende und empathische Kindererziehung zu entwickeln, welche wir heute bei vielen Familien rund um die Welt finden können." (ebd., S. 218)

deMause, L.2005: Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec.

Dienstag, 9. Dezember 2008

Astrid Lindgrens Position: "Niemals Gewalt"

Per Zufall fand ich einen Artikel in der Berliner Zeitung, in dem Astrid Lindgrens Position zu dem hier im Blog behandelten Thema kurz beschrieben wird.

"Im Jahre 1978 erhielt Astrid Lindgren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ihre Rede sorgte schon vor der Verleihung für einen Eklat, weil die Verantwortlichen nach der Lektüre des Manuskripts sagten, sie solle den Preis "kurz und gut" ohne Rede entgegennehmen. Astrid Lindgren ließ sich darauf nicht ein, drohte mit Verzicht und durfte doch noch in Frankfurt am Main sprechen. In einer Zeit, da die Diskussion um neue Waffensysteme die Öffentlichkeit beherrschte und das Wettrüsten nicht zu stoppen schien, stellte sie ihre Rede unter die Überschrift "Niemals Gewalt" "
Auszug aus dem Artikel "Kinder an die Macht" erschienen in der Berliner Zeitung vom 29.02.2002

Die komplette Rede fand ich bei der ZEIT veröffentlicht am 13.11.2007 hier . Die für mich wichtigsten Auszüge habe ich nachfolgend zusammengestellt:


"(...) Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern. Sie, meine Freunde, haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchautorin verliehen, und da werden Sie kaum weite politische Ausblicke oder Vorschläge zur Lösung internationaler Probleme erwarten. Ich möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen. Über meine Sorge um sie und meine Hoffnungen für sie. Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben wollen. Gibt es auch nur die geringste Hoffnung darauf, dass die heutigen Kinder dereinst eine friedlichere Welt aufbauen werden, als wir es vermocht haben? Und warum ist uns dies trotz allen guten Willens so schlecht gelungen? (...)

In keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun. "Überall lernt man nur von dem, den man liebt", hat Goethe einmal gesagt, und dann muss es wohl wahr sein. Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist auch dann gut, wenn das Kind später nicht zu denen gehört, die das Schicksal der Welt lenken.
Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tages doch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist es für uns alle ein Glück, wenn seine Grundhaltung durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch Gewalt. Auch künftige Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben - das ist erschreckend, aber es ist wahr. Blicken wir nun einmal zurück auf die Methoden der Kindererziehung früherer Zeiten. Ging es dabei nicht allzu häufig darum, den Willen des Kindes mit Gewalt, sei sie physischer oder psychischer Art, zu brechen? Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt "von denen, die man liebt", nämlich von den eigenen Eltern erhalten und dieses Wissen dann der nächsten Generation weitergegeben!
Und so ging es fort. "Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben", heißt es schon im Alten Testament, und daran haben durch die Jahrhunderte viele Väter und Mütter geglaubt. Sie haben fleißig die Rute geschwungen und das Liebe genannt. Wie aber war denn nun die Kindheit aller dieser wirklich "verdorbenen Knaben", von denen es zurzeit so viele auf der Welt gibt, dieser Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Menschenschinder? Dem sollte man einmal nachgehen. Ich bin überzeugt davon, dass wir bei den meisten von ihnen auf einen tyrannischen Erzieher stoßen würden, der mit einer Rute hinter ihnen stand, ob sie nun aus Holz war oder im Demütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachen bestand. In den vielen von Hass geprägten Kindheitsschilderungen der Literatur wimmelt es von solchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinder durch Furcht und Schrecken zu Gehorsam und Unterwerfung gezwungen und dadurch für das Leben mehr oder weniger verdorben haben. (...)"


Das ein Mensch wie Astrid Lindgren so deutlich fühlt, wo die tieferen Ursachen für die Destruktivität in der Welt zu suchen sind, verwundert eigentlich kaum. Mich persönlich hat das Lesen dieser Rede aus dem Jahr 1978 nochmal sehr motiviert bzw. mir helfen solche Aussagen von Menschen, die bei klarem Versatnd und vor allem bei gesundem Gefühl sind in meiner eigenen Wahrnehmung. Manches mal komme ich mir doch wie ein Spinner vor, der nur übertreibt. Zu oft stößt man an die Grenzen dessen, was die Welt bereit ist wahrzunehmen.

Samstag, 6. Dezember 2008

Geschichte der Kindheit

Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Philippe Aries und Lloyd deMause

Psychohistorie und klassische Geschichtsforschung sind auf den ersten Blick oftmals gegensätzlich. Hornstein & Thole (2005) schreiben beispielsweise:
„Kinder sind in die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse einbezogen und insofern in einem dezidierten Sinn des Wortes Kinder ihrer jeweiligen Zeit. Darauf hat die neuerdings sehr stark sich entwickelnde sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung mit aufmerksam gemacht. Insbesondere historische Forschungen aus den letzten 30 Jahren (Aries 1978; de Mause 1977; Shorter 1977; Elias 1977; Honig 2002) haben gezeigt, wie sich die Lebenssituation der Kinder mit dem Beginn der Neuzeit drastisch veränderte. In den sozialgeschichtlichen Rekonstruktionen und in den theoretischen Diskussionen zur Entstehung der Kindheit offenbaren sich jedoch auch die Ambivalenzen dieser geschichtlichen Entwicklung, insbesondere in den beiden zentralen Untersuchungen zur Geschichte der Kindheit (Aries 1978; De Mause 1977).“ (Hornstein & Thole, 2005, S. 530)
Die Untersuchungen von Aries zur „Geschichte der Kindheit“ und deMause mit seinem Buch „Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit“ sind erstens die bedeutsamsten, wenn es um die Geschichte der Kindheit geht und zweitens werden beide häufig als gegensätzlich dargestellt. DeMause stellt historisch eine stetige Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung fest, was aus seiner Sicht (positive) gesellschaftliche Entwicklungsprozesse erst ermöglichte. Aries betrachtet die Entwicklung kritischer und hat ein sehr verträumtes Bild von der mittelalterlichen Gesellschaft (mit ihrem Gemeinschaftssinn), in der jeder mit jedem kommunizierte, jeder seinen Platz hatte, die Kinder eingebunden waren in die Erwachsenenwelt und nicht – wie seit Beginn der Neuzeit - aus dieser „herausgerissen“, in „ihrer Freiheit beschränkt“ und (durch Schule und Elternhaus) „streng diszipliniert“ wurden. Dem physische und psychische Wohlbefinden des Kindes im Mittelalter schenkt er - entgegen deMause - dabei kaum Beachtung und tendiert eher dazu, die aus seiner Sicht positiven Seiten dieser Zeit zu beleuchten. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise nehme ich zum Anlass, da mal genauer hinzuschauen und Kernthesen aus beiden Arbeiten vorzustellen.

Hornstein & Thole meinen, dass Prozesse der Modernisierung, die Entstehung einer bürgerlichen, auf Kapitalakkumulation angelegten Gesellschaftsformation, im Hintergrund entscheidend Prozesse der sich veränderten Kinderwelt beeinflussten. „Erst hierüber konnte sich eine eigene Kinderwelt herausbilden, die sich in allem und grundlegend von derjenigen der Erwachsenen unterscheidet.“ (Hornstein & Thole, 2005, S. 531) Dass Veränderungen innerhalb von Familie und Erziehung so zusagen „von Oben kommen“, also durch gesellschaftliche Prozesse (insbesondere auch ökonomische) wesentlich beeinflusst werden, ist die übliche Darstellung. Natürlich ist diese Aussage im Kern nicht falsch, natürlich beeinflusst eine Gesellschaft und ihre Weltbilder ihre Mitglieder bis in den privatesten Bereich. Natürlich trägt auch „das Oben“ zu der Entwicklung von Kindern etwas bei, man denke z.B. an entsprechende Kinderschutz- und Förderungsgesetze bis hin zur gesetzlichen Möglichkeit, Kinder aus sehr problematischen Familien herauszunehmen, um sie besser und beschützt unterzubringen.

DeMause macht in seinen Arbeiten allerdings deutlich, wie eine erhebliche Veränderung von Kindererziehung stets erhebliche Veränderungen für die Gesellschaft (inkl. Ökonomie, Politik und symbolischer Ordnung) mit sich brachte und bringt. (siehe oben genannte Untersuchung und auch deMause, 2005) Die veränderte Gesellschaft wirkt dann natürlich wiederum rück auf die Kinder, aber am Anfang war die Erziehung (die Entstehung neuer „Psychoklassen“, um im Wortlaut von deMause zu schreiben) der Stein, der alles zum Rollen brachte, so seine Kernthese. Das spannende ist dabei, dass Aries, wenn man genau hinschaut, gar nicht soweit entfernt von deMause ist und man ersteren gut dafür nutzen kann, die Thesen von deMause zu stützen. Dazu weiter unten mehr.

Schauen wir uns also zunächst die Untersuchung von Aries an: Nach Aries waren die Kinder im Mittelalter und am Anfang der Neuzeit – in den ärmeren Schichten auch noch länger bis ins 19.Jahhundert – mit den Erwachsenen vermischt, sobald man ihnen zutraute, dass sie ohne Hilfe der Mutter oder der Amme auskommen konnte, d.h. in der Regel im Alter von etwa 5-7 Jahren. In diesem Augenblick traten die Kinder übergangslos in die Welt der Erwachsenen ein und sie wurden routinemäßig zu Fremden in die Lehre geschickt. Die mittelalterliche Zivilisation hatte laut Aries keine Vorstellung von so etwas wie „Erziehung“ (außer der Lehre), weil es aus ihrer Sicht überhaupt gar kein Problem oder einen Anlass dazu gab. Ebenso gab es kein bewusstes Verhältnis zu so etwas wie „Familie“ und „Kindheit“. (Diese Sicht wird von deMause kritisch beurteilt. Er verweist auf künstlerische Darstellungen von wirklichkeitsgetreuen Kindern im Mittelalter und auf die Antike, die ein Bild von "Kindheit" und "Erziehung" hatte. (deMause, 2000, S. 23ff) )
„Immerhin konnte das Kind in den allerersten Jahren, wenn es noch ein kleines drolliges Ding war, auf eine oberflächliche Gefühlszuwendung rechnen, die ich „Gehätschel“ genannt habe. Man vergnügte sich mit ihm wie mit einem Tier, einem ungesitteten Äffchen. Wenn es dann starb, wie es häufig vorkam, mochte dies den ein oder anderen berühren, doch in der Regel machte man davon nicht allzu viel Aufhebens: ein anderes Kind würde sehr bald seine Stelle einnehmen. Aus einer gewissen Anonymität gelangte es nie heraus.“ (Aries,1981, S. 46) Die mittelalterliche Familie hatte keine affektive Funktion, so Aries weiter. Gefühle zwischen Ehegatten und zwischen Eltern und Kindern waren keine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz und für das Gleichgewicht der Lebensgemeinschaft. Für gefühlsmäßige Bindungen und soziale Kontakte war außerhalb der Familie gesorgt.
„Das große Ereignis zu Beginn der modernen Zeit war (...) die Renaissance des erzieherischen Interesses. Dies Interesse beseelte eine bestimmte Zahl von Männern der Kirche, des Gesetzes und der Wissenschaft, die im 15.Jahrhundert noch sehr vereinzelt, im 16. und 17. Jahrhundert (..) dann jedoch immer zahlreicher und einflussreicher wurden.“ (Aries, S. 560) Diese Rückkehr der Kinder in den Schoß der (Kern-)Familie verleiht der Familie des 17. Jahrhunderts im wesentlichen den Charakter, der es von der mittelalterlichen Familie unterschied. Das Kind wird zu einem unabdingbaren Bestandteil des Alltagslebens, man beschäftigt sich bevorzugt mit seiner Erziehung, seiner Unterbringung, seiner Zukunft. (vgl. ebd., S.554) Im 18. Jahrhundert kam dann noch das Bemühen um Hygiene und körperlicher Gesundheit dazu. (ebd., S . 217)
Die Familie begann, sich um das Kind herum zu organisieren, so dass es aus seiner einstigen Anonymität herausgerissen wurde. „Man konnte es nicht mehr ohne großen Schmerz verlieren oder ersetzen, den Vorgang der Kinderaufzucht nicht mehr allzu oft wiederholen, und es empfiehlt sich, die Anzahl der Kinder zu beschränken, damit man sich ihnen besser widmen kann.“ (ebd., S. 48) Diese Revolution auf dem Gebiet der schulischen Erziehung und gefühlsmäßigen Einstellung brachte auf lange Sicht eine freiwillige Geburtenbeschränkung mit sich.
Man stellte damals auch fest, dass das Kind für das Leben nicht reif sei, dass man es „einer speziellen Einflussnahme“ unterwerfen müsse, eh man es in die Welt der Erwachsenen entlässt. „Dieses neue Interesse an der Erziehung wird die Gesellschaft allmählich prägen, sie von Grund auf verwandeln. Die Familie hört auf, lediglich eine privatrechtliche Institution zum Zweck der Weitergabe von Eigentum und Namen zu sein, sie bekommt eine moralische und geistige Funktion, formt den Körper und die Seele. Zwischen der physischen Erzeugung und der rechtlichen Institution bestand eine Kluft, die fortan die Erziehung ausfüllen wird. Die Fürsorge für das Kind weckt neue Empfindungen, schafft eine neue Affektivität, die die Ikonographie des 17. Jahrhunderts mit ebensoviel Nachdruck wie Geschick zum Ausdruck gebracht hat: den modernen Familiensinn. Die Eltern begnügen sich nicht mehr damit, Kinder in die Welt zu setzen, einigen von ihnen eine Aussteuer zu geben und den anderen keine Beachtung zu schenken. Die Moral der Zeit verlangt von ihnen, dass sie sämtlichen Kindern, am Ende des 17. Jahrhundert sogar den Mädchen, und nicht nur den Ältesten das Rüstzeug fürs Leben verschaffen. Man ist sich darüber einig, dass dies nur durch die Schulbildung geschehen kann. Die Schule nimmt nun die Stelle der traditionellen Lehre ein, und zwar eine zum Instrument einer strengen Disziplin umgeformten Schule (....). Der außerordentliche Aufschwung der Schule im 17.Jahrhundert ist eine Konsequenz dieses neuen Interesses der Eltern an der Kindererziehung. (...)“ (ebd., S. 561)
Die Ablösung des Lehrverhältnisses durch die Schule drückt in gleichem Maße eine Annäherung zwischen Familie und den Kindern, zwischen Familiensinn und Sinn für die Kindheit aus, die einst getrennt waren. Aries spricht dabei von einer tiefgreifenden und langsam vonstatten gehender (gesellschaftlichen) Umwälzung. (vgl. ebd., S, 509)
Und weiter schreibt er: „Die Familie und die Schule haben das Kind mit vereinten Kräften aus der Gesellschaft der Erwachsenen herausgerissen. Die moderne Familie hat dem Gemeinschaftsleben nicht nur die Kinder, sondern auch einen großen Teil der Zeit und des Interesses der Erwachsenen entzogen. Sie entspricht dem Bedürfnis nach Intimität und nach Identität: die Familienmitglieder sind gefühlsmäßig wie durch Gewöhnung und Lebensweise miteinander verbunden. Das ständige Zusammensein mit Freunden, das die alte Sozialität verlangt hatte, widerstrebt ihnen.“ (ebd., S. 562)
Die (insbesondere bürgerliche) Familie mit ihrem Bedürfnis nach Intimität und einer eigenen Wohnung brachte auch eine Teilung der Gesellschaft in homogene Milieus mit sich, die als Gegenmodell zur alten „polymorphen Gesellschaft“ (den Sippen- und Stammesverbänden) standen. Vorher gab es keine Trennung von Wohnung, Lehre/Arbeitsplatz, „Freizeitbereich“ und auch politischem Leben. Und vorher – im kollektiven Leben - gab es auch eine gewisse Annäherung der unterschiedlichen Stände, die nun immer mehr wegfiel.
„Der Drang zur Intimität und die neuen Bedürfnisse nach Komfort, die dadurch geweckt wurden (denn zwischen Komfort und Intimität besteht eine enge Beziehung) verschärften zusätzlich den Gegensatz zwischen materiellen Lebensbedingungen des Volkes und des Bürgertums. (ebd., S. 564) (Anmerkung: Und schaffte somit neue Klassenunterschiede) Die Pflege traditioneller gesellschaftlicher Beziehungen, der unablässige Kontakt mit der Gesellschaft verloren immer mehr an Bedeutung. „Ein tiefgreifender Wandel sprengt nun die alten Beziehungen zwischen Herr und Diener, Groß und Klein, Freunden und Kunden. (...) Die Geschichte unserer Sitten reduziert sich teilweise auf diese langanhaltende Anstrengung sich von den anderen zu trennen, sich von einer Gesellschaft abzusondern, deren Druck man nicht mehr ertragen will. (...) Beruf und Familienleben haben jene andere Aktivität erstickt, die einst das gesamte Leben durchdrungen hatte, die Pflege gesellschaftlicher Beziehungen. Man ist versucht, den Schluss zu ziehen, dass Familiensinn und Sozialität nicht vereinbar waren und eines sich jeweils nur auf Kosten des anderen entwickeln konnte.“ (ebd., S. 558)
Die neue Moral oder auch der Sittenwandel gegenüber dem Kind brachte – zumindest in höhern Gesellschaftsschichten – ab dem 17. Jahrhundert auch mit sich, dass die „sexuellen Freiheiten“ (also den sexuellen Missbrauch, diesen Begriffe nutzt Aries nicht ein einziges mal), die man sich gegenüber Kindern erlaubt hatte, Stück für Stück nicht länger geduldet wurden. Die Trennung der Kinder von der Erwachsenenwelt bedeutete auch einen Schutz. (vgl. ebd., S. 187 + 196)
Ab dem 18. und vor allem 19. Jahrhundert hatte sich das neue Familieleben auf nahezu die ganze Gesellschaft ausgedehnt, so dass man schließlich seinen aristokratischen und bürgerlichen Ursprung vergessen hatte.(ebd., S. 555)

Diese von mir oben ausgewählten Zitate und Informationen könnten theoretisch (mit einer etwas anderen Wortwahl und Deutung) auch von einem Psychohistoriker wie Lloyd deMause stammen. Hier sind wesentliche Punkte benannt und angerissen, die psychohistorische Thesen unterstützen: Die stetige Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung und der Anstoß dieses Prozesses zunächst durch einige wenige Männer der Kirche, des Gesetzes und der Wissenschaft, die neue Erziehungsideale verbreiteten (deMause würde in etwa schreiben: Durch neue Variationen in der Kindererziehung, seien vereinzelt neue Psychoklassen entstanden, die den gesellschaftlichen Fortschritt vorantrieben.). Aries spricht bzgl. der gesellschaftlichen Wirkung dieses Prozesses von einem „große Ereignis“, einer „Revolution“ und einem „bemerkenswerten Wandel“, führt dies aber nicht in weitere Richtungen aus (außer im Rahmen der oben genannten Stichworte)
In einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von der „Geschichte der Kindheit“ schreibt Hartmut von Hentig, dass sich zwischen Mittelalter und 19. Jahrhundert vor allem der Geltungsbereich von „Familie“ geändert habe: „(...) sie hat Funktionen an Armenhäuser, Spitäler für Alte und Kranke, Schulen, Banken, Versicherungen abgegeben und wurde schon dadurch kleiner, Aries versäumt es, Familie und Schule in einen weiteren sozialen und ökonomischen Kontext zu stellen.“ (ebd., S. 30) Die logische Folge von Aries Buch ist also, die sozialen, ökonomischen und auch politischen Veränderungen der Zeit in Zusammenhang mit dem „großen Ereignis“ der Entdeckung der Kindheit zu bringen. Von Hentigs Bemerkung macht beispielhaft klar, wohin die gedankliche Reise gehen könnte: Das ganze System änderte sich offensichtlich dadurch, dass – ausgehend von dem neuen Familiensinn - Individuen entstanden, dass „neue Bedürfnisse nach Komfort“ geweckt wurden (siehe oben kurz erwähnt), dass Wohnraum und auch Arbeit anders organisiert werden musste (denn beides musste nun getrennt werden), dass kollektive Aufgaben der Gemeinschaftsfamilien und Verbände nun auch außerhalb dieser erfüllt werden konnten, was folglich berufliche Spezialisierungen mit sich bringt usw.
Mir kommt auch in den Sinn, dass die langsame Auflösung einer kollektiven Gesellschaft, in der jeder seinen „natürlichen Platz“ hatte, erstens ein hohes Konflikt- und Krisenpotential inne hatte (und damit immer auch Kriegsgefahr bestand) und zweitens diese Individualisierung (ausgehend von der Kindererziehung) überhaupt erst die gedankliche Möglichkeit von einer neuen Gesellschaftsordnung zuließ: Wenn ich ein stückweit ein eigener Mensch sein darf, wenn Papa dort arbeitet, hier wohnt, und da seine Freizeit verbringt, wenn Lebenssphären getrennt werden, dann ist womöglich auch die kollektive Ordnung keine natürliche, Herr und Knecht, Oben und Unten usw., all dies wird anzweifelbar und veränderlich. Es wäre sicher interessant, wenn man z.B. die Französische Revolution (1789 bis 1799) – gerade Aries Buch bezieht sich viel auf Frankreich - in ihrer Entstehung und Entwicklung (mit dem zentralen Fokus auf die Entstehung der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" im Jahr 1789) zusammen mit der Entwicklung des neuen Familiensinns und neuer Kindererziehungspraktiken untersuchen würde (dabei müssten vor allem gezielt die familiären Hintergründe – sprich Gemeinschaftsfamilie oder modernere Familie – der entscheidungstragenden und dominierenden Akteure untersucht werden). Natürlich wäre es auch sehr interessant, gesellschaftliche Entwicklungen insbesondere im 19. Jahrhundert im Sinne dieser Zusammenhänge zu untersuchen, da sich in diesem Jahrhundert der „Familiensinn“ auf nahezu die gesamte Gesellschaft ausdehnte.
Im letzten Absatz seines Buches schreibt Aries bzgl. der Wirkung des genannten Wandels: „Der Familiensinn, das Klassenbewusstsein, anderswo vielleicht auch das Rassenbewusstsein, scheinen verschiedene Äußerungsformen derselben Intoleranz gegenüber der Vielfalt und desselben Strebens nach Uniformität zu sein.“ (ebd., S. 564) Ich teile diese kritische Einschätzung nicht, denn die Welt ist durch die Individualisierungsprozesse komplexer und vielfältiger geworden, wie ich meine. Sein Schlusswort zeigt trotzdem eine interessante Richtung auf, die das Buch anregt. In wie weit wurde so etwas wie ein (neues) Klassenbewusstsein erst durch den neuen Familiensinn geschaffen? Vorher gab es das Kollektiv mit seinen Standesunterschieden. Trotzdem gehörte man „natürlich“ zusammen. Jetzt entwickelten sich neue Milieus usw. mit neuen Gegensätzen. Ja, die Bearbeitung des Themas „Geschichte des Kindes“ ist letztendlich immer noch in den Kinderschuhen, insbesondere bzgl. der gesellschaftlichen Wirkungsweise. .

Warum wird Aries nun trotz dieser offensichtlichen möglichen Folgerungen und möglicher Unterstützung psychohistorischer Thesen trotzdem häufig als gegensätzlich zu deMause betrachtet? Ganz einfach: Aries deutet gleiche historische Beobachtungen anders!
Die Ausweitung des privaten Bereiches bzw. die Individualisierung kam wesentlich durch das neue Interesse am Kind und einem neuen Familiensinn in Bewegung, wie oben beschrieben. Diesen Individualisierungsprozessen steht Aries grundsätzlich kritisch gegenüber. Diese sind für ihn kein Fortschritt und kein Weg zu mehr sozialem Gemeinsinn. Beispielsweise spricht er von „einer Art Quarantäne“, „einem Prozess der Einsperrung der Kinder (wie der Irren, der Armen und der Prostituierten), der bis in unsere Tage nicht zum Stilstand kommen sollte und den man als „Verschulung“ bezeichnen könnte.“ (ebd., S. 48) Die mittelalterliche Familie hätte in einem „dichteren und wärmeren sozialen Raum“ (ebd., S. 49), einem „Maximum von Lebensformen in einem Minimum von Raum“ gelebt. (ebd., S. 564). Bei ihm schwingt immer ein Stück weit Sehnsucht nach dem altem Gemeinschaftssinn mit, der – aus seiner Sicht - in moderneren Tagen verloren gegangen zu sein scheint.
Aries beschäftigt sich viel mit der damaligen Kleidung, den Kinderspielen, der Schule, der Einstellung zur Kindheit. Insbesondere letzteres ist sein großer Verdienst. Außen vor bleiben bei ihm weitgehend die Schattenseiten des Mittelalters, die routinemäßige Misshandlung und Vernachlässigung, der Missbrauch, die Kindestötung usw., die nur hier und da kurz und ohne großen Kommentar Erwähnung finden, während diese gerade bei den Psychohistorikern eine zentrale Rolle spielen und bzgl. gesellschaftlicher Entwicklungen weiterverarbeitet und gedeutet werden .

An einer speziellen Stelle des Buches fiel mir auch auf, wie wenig sich Aries in das Gefühlsleben von missbrauchten Kindern einfühlen konnte bzw. diese Erfahrungen einfach ganz anders deutete. Die ersten Lebensjahre von Ludwig XIII. waren von einer Fülle sexueller Übergriffe und Grenzüberschreitungen (Aries benutzt hier andere Wörter, im Sinne der damaligen Zeit) begleitet, die Aries ausführlich schildert. (vgl. ebd., S.175ff) Dann schreibt er: “(...) es fällt einem nicht schwer, sich vorzustellen, was der moderne Psychoanalytiker dazu sagen würde! Doch hätte dieser Psychoanalytiker unrecht. Die Einstellung zur Sexualität und zweifellos auch die Sexualität selbst ist von Milieu zu Milieu und insbesondere auch von Epoche zu Epoche und von Mentalität zu Mentalität verschieden. Heute scheinen uns Berührungen, wie Heroard sie beschrieben hat, hart an sexuelle Anomalie zu grenzen, und niemand würde sie öffentlich wagen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts sah das noch anders aus. (...)“ (ebd., S.179) Dass auch damals sexueller Missbrauch für Kinder schwerwiegende Folgen hatte und sexuelle Gewalt nichts mit Sexualität zu tun hat, blendet er hier vollkommen aus. Es offenbart sich hier auch ein Grundproblem bei Aries: Er schreibt stets im Sinne und aus Sicht der historischen Zeit. Auch dadurch wurde sein Buch sicher zum Gegenpol zu deMause erklärt.
An einer anderen Stelle schreibt Aries: Die Familie und die Schule hat dem Kind „(...) die Zuchtrute, das Gefängnis, all die Strafen beschert, die den Verurteilten der niedrigsten Stände vorbehalten waren. Doch verrät diese Härte, dass wir es nicht mehr mit der ehemaligen Gleichgültigkeit zu tun haben: wir können vielmehr auf eine besitzergreifende Liebe schließen, die die Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert beherrschen sollte.“ (ebd., S. 562) Wenn Kindesmisshandlung mit Liebe in Verbindung gebracht wird, schlagen bei mir immer die Alarmglocken. Wenn ein Aries solche Verbindungen (wenn auch beiläufig) herstellt, wird auch deutlich, dass er für das Leid der (mittelalterlichen) Kinder nicht wirklich offen sein konnte. Er schildert die harte (neue) Disziplin gegen die Kinder zwar an manchen Stellen, ja ist diese gerade die Grundlage dafür, dass er von einer Verschlechterung der Situation für Kinder ausgeht (Nebenbei: Mir stellt sich hier die ernstgemeinte Frage, wie wohl die eigene Schulzeit von Aries aussah? Erlebte er Gewalt und harte Disziplin? Könnte dies die Quelle seiner Ablehnung gegenüber der neuen Schulform sein?), doch ausführliche Berichte über die Gewalt gegen Kinder fehlen oder werden wie im Einzelbeispiel von Ludwig in ganz andere Richtungen kommentiert.

In seinem Buch gibt es zum Schulleben auch ein Abschlusskapitel, dass er „Die Härte des Schullebens“ (ebd., S. 440ff) genannt hat. Erwartungsvoll las ich das Kapitel und dachte, dass er jetzt die harte Disziplin von Lehrern gegen Kinder schildern und anprangern würde. Fehlgedacht. Zu meinem Erstaunen behandelte er in dem Kapitel ausführlich diverse Schülerunruhen und –aufstände, Schülerstreiks, die Bewaffnung von Schülern, Trinkgelage von Schülern usw., um dann abschließend auf das Ziel der Schule einzugehen: Wohlerzogene Kinder zu formen. Diese Sicht vom wilden Schüler, der gezähmt werden muss, mag damalige Realität gewesen sein. Hier fehlte mir ein moderner Kommentar durch Aries und natürlich die Schilderung der Gewalt von Lehrern gegen Schüler.
In der aktualisierten Einleitung zu seinem Buch schreibt Aries 1973 allerdings auch selbstkritisch, wenn er das Buch neu konzipieren müsste, würde er es in erster Linie um das Phänomen der geduldeten Kindestötung ergänzen. (ebd., S. 54) Aries war eben auch ein Kind seiner Zeit, das Buch entstand in den 50er Jahren und wurde im Jahr 1960 zuerst veröffentlicht. Für vieles war er offensichtlich noch nicht offen und es gab noch zu wenig Informationen gerade zum Thema Kindesmisshandlung.

Warum habe ich mir die Mühe gemacht, dies hier alles so ausführlich auszuführen? Erstens ist dies hier eine gute Gelegenheit für mich, einige historisch bedeutsame Entwicklungen in der Kindererziehung vorzustellen, die für diesen Blog wichtig sind. Zweitens. Trotz all dieser o.g. Kritikpunkte und Differenzen: Ich meine, dass man Aries in vielen Teilen für die Bestätigung psychohistorischer Thesen heranziehen kann (solange man seine persönlichen Deutungen außen vorlässt und sich auf die Fakten des Buches konzentriert). Philippe Aries gilt als renommierter Historiker und trotz verschiedenster Kritik von wissenschaftlicher Seite gilt sein Buch als Meilenstein in der Geschichtsforschung über Familie und Kindheit, es begründete eine eigenständigen Geschichtsforschung zur Kindheit in Europa und Nord-Amerika Seine Arbeit wird ernst genommen. Um so wichtiger wäre es, wenn man mehr auf die Parallelen zwischen Aries und Lloyd deMause aufmerksam machen würde, als nur die Gegensätze zu erwähnen. Die wichtige Erkenntnis von deMause, dass eine verbesserte Kindererziehung auch eine Verbesserung von gesellschaftlichen Verhältnissen mit sich bringt, weiter zu stützen, dies war hier mein Hauptanliegen.


Literatur:

Aries, P. 1981: Geschichte der Kindheit. Deutscher Taschenbuch Verlag, München. (4. Aufl.; erste deutsche Aufl. 1975)

deMause, L. 1992: Evolution der Kindheit. In: deMause, L. (Hrsg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M, (7. Auflage; erste deutsche Aufl. 1977)

deMause,L. 2000: Was ist Psychohistorie? Psychosozial-Verlag, Gießen.

deMause, L.2005: Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec.

Hornstein, W- | Thole, W. 2005: Kindheit. In: Kreft, D./ Mielenz, I. (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Juventa Verlag. Weinheim/München.(5. Aufl.)

Donnerstag, 27. November 2008

UNICEF-Bericht zum Wohlergehen der Kinder in Industrieländern

Der Bericht „Child poverty in perspective: An overview of child well-being in rich countries“des UNICEF-Forschungsinstituts Innocenti aus dem Jahr 2007 liegt vor.

Deutsche Zusammenfassung hier: http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/presse/fotomaterial/Kinderarmut/StudieD.pdf

Erfasst wurden folgende Dimensionen, um die Lebenssituation von Kindern beurteilen und vergleichen zu können:


1. Materielle Situation

1 a Relative Einkommensarmut

1 b Arbeitslosigkeit der Eltern

1 c Mangelsituationen


2. Gesundheit

2 a Säuglingssterblichkeit und Geburtsgewicht

2 b Anteil geimpfter Kinder

2 c Unfälle und Verletzungen


3. Bildung

3 a Schulisches Leistungsvermögen

mit 15 Jahren

3 b Besuch weiterführender Schulen

3 c Übergang in die Arbeitswelt


4. Beziehungen zu Eltern und
Gleichaltrigen

4 a Familienstruktur

4 b Familienalltag

4 c Beziehungen zu Gleichaltrigen


5. Lebensweise und Risiken

5 a Gesunde Lebensweise

5 b Risikoreiches Verhalten

5 c Erfahrungen mit Gewalt


6. Eigene Einschätzung der Kinder

und Jugendlichen

6 a Eigene Gesundheit

6 b Situation in der Schule

6 c allgemeine Zufriedenheit


Deutschland liegt im Ergebnis auf Rang 11. Besonders schlecht schneiden Großbritannien (letzter Platz Nr. 21) und die USA (vorletzter Platz Nr. 20) ab.

Es ist schon interessant, dass ein Land wie die USA, welches in den letzten 8 Jahren unter Bush erheblich den Weltfrieden gefährdet und gleichzeitig die eigene Gesellschaft herunter gewirtschaftet hat, ganz hinten im Ranking um die Sorge für Kinder steht. Ich kenne nicht die Zahlen aus den Jahren vor Bush. Zwei gedankliche Richtungen gehen mir hier aber durch den Kopf:
Erstens scheinen Regierungen, die in erheblicher Weise destruktiv und kriegerisch agieren, immer auch unfähig oder besser gesagt unwillig, sich der Sorge um die eigenen Kinder anzunehmen. Was wiederum die Vermutung nahe legt (gerade auch wenn man sich mit Thesen von Lloyd deMause auseinandersetzt), dass sie es in Ihrer eigenen Kindheit nicht anders erfahren haben und die kollektive Vernachlässigung von Kindern auf Grund unbewusster Prozesse geschieht. Zweitens ist immer auch die Frage, in wie weit eine kollektive schlechte Versorgung von Kindern wiederum dazu beiträgt, dass eine Gesellschaft sich destruktiv-kriegerisch entwickelt. Das immer auch andere Faktoren mit in entsprechende Gesellschaftsanalysen einbezogen werden müssen, versteht sich. Nur warum werden solche naheliegenden Zusammenhänge wie oben beschrieben in der Öffentlichkeit kaum oder eher nie dargestellt?


Mittwoch, 26. November 2008

Parallelen zwischen Folter und Kindesmisshandlung

„Bei Folter geht es im Wesentlichen darum, den Willen, die Menschlichkeit und den Geist des Individuums zu zerstören, sodass es die Kontrolle über sich verliert und bereit ist, seinen Folterern die Kontrolle über sich zu übergeben“, wird im aktuellen greenpeace magazin ein Mitglied des kanadischen Zentrums für Folteropfer zitiert. (greenpeace magazin, 01/02/2009: „Denk nach, wie du am Leben bleibst“, S. 52-54, von Sylvia Feist )

Der Protagonist des Artikels, der durch die CIA verschleppt in Syrien fast ein Jahr lang gefoltert wurde, war nach dieser Zeit nicht mehr der selbe. „Ich war wie ein Hund“, erinnert er sich an die erste Zeit nach seiner Rückkehr, „ich war unterwürfig, schwach und habe alle Entscheidungen an meine Frau abgetreten. Ich war vollkommen zerstört, emotional und psychisch.“

Ich ändere jetzt mal obige Definition für Folter folgendermaßen:

Bei dem Missbrauch und der Misshandlung von Kindern geht es im Wesentlichen darum, den Willen, die Menschlichkeit und den Geist des Kindes zu zerstören, sodass es die Kontrolle über sich verliert und bereit ist, seinen Eltern die Kontrolle über sich zu übergeben“

Erschreckende Parallelen tun sich hier auf, wie ich finde, auch wenn es bei Folter um ein Extrembeispiel geht. Auch die Folgen der Folter beschreiben einen Teil der möglichen Wirkung auch von Kindesmisshandlung.

Weitere Gedanken zu diesen möglichen Parallelen zwischen "politisch motivierter" Folter und der Misshandlung von Kindern überlasse ich den LeserInnen dieses Blogs.

Donnerstag, 20. November 2008

Definition Krieg

Für eine ungewöhnliche Bearbeitung des Themas bedarf es auch einer ungewöhnlichen Definition von "Krieg".

Wie der Psychohistoriker Lloyd deMause Krieg definiert:

Krieg ist ein Ritual der Wiederaufführung früher Traumata zum Zweck der Rache und Selbstläuterung. Kriege sind klinische emotionale Störungen, kollektiv psychotische Episoden von wahnhaft erzeugter Schlächterei, mit der Absicht, einen schweren Kollaps der Selbstachtung zur Erreichung von Gerechtigkeit in Rache zu verwandeln. Kriege sind sowohl mörderisch als auch selbstmörderisch. (vgl. deMause, 2005, S. 119)

Krieg ist ein Opferritual, dazu bestimmt, Angst vor Individuation und Verlassenwerden abzuwehren, indem unsere frühen Traumata an Sündenböcken wiederaufgeführt werden. (ebd., S. 65)

Kriege sind Wohlstandsreduzierungsrituale. Sie sind Antworten auf Wachstumspanik - Antworten auf Fortschritt und Wohlstand, nicht auf Rückgang. Was tatsächlich schwindet, wenn Nationen entscheiden, in den Krieg zu ziehen, sind nicht ökonomische, sondern emotionale Ressourcen. (ebd., S. 112)

„Wachstumspanik“ entsteht nach deMause auf Grund früher Traumatisierungen und destruktiver Erziehung (ebd., S. 72ff + 96ff) (Dazu habe ich Näheres hier ausgeführt, im etwas hinteren Teil des Kapitels))

Eine solche Definition steht natürlich im krassen Gegensatz zu einer sozialwissenschaftlichen Definition von Krieg. DeMause bringt hier sowohl moralische Wertungen als auch ursächliche Erklärungen mit ein.
Der vollkommen anderer Ansatz wird noch deutlicher, wenn man sich z.B. die sozialwissenschaftliche Definition der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) anschaut (siehe hier ganz Unten im Text). Diese ist vollkommen wertneutral und beobachtet bzw. kategorisiert einfach das Geschehen. Für die Sozialwissenschaft sicherlich ein berechtigter Ansatz. Für die Art und Weise, wie ich mich hier mit dem Thema Krieg auseinandersetze, ist die „emotionale“ Definition von deMause die geeignetere.

Samstag, 15. November 2008

Fehlende Empathie und Krieg

Es ist für mich immer wieder erschreckend, wie sehr sich im Alltag das für mich bestätigt, über was ich hier schreibe.

Eine Bekannte von mir traf heute auf eine Bekannte (toller Satzbau...), nennen wir letztere einfach mal „Cordula“. Ich selbst habe das Gespräch zwischen den beiden nur bruchstückhaft mitbekommen, allerdings berichtete mir meine Bekannte anschließend ausführlich und sehr erschüttert:
Selbige hat vor einigen Monaten ein Kind bekommen und dies in dem Gespräch Cordula (diese ist ca. 65 Jahre alt) erzählt. Daraufhin bekam sie erst mal Glückwünsche und man kam ins Gespräch über Erziehung. Cordula kam gleich zur Sache und berichtete ganz offen (als Erziehungsempfehlung), wie sie früher einen ihrer Söhne regelmäßig mit einem Holzstab geschlagen hatte. Dieser Sohn sei im Gegensatz zu ihren anderen Kindern immer herausfordernder gewesen und habe sie stets auf die Palme getrieben. Die anderen Kinder waren einfach sensibler, meinte sie weiter. Doch dieser Sohn... Außerdem war sie oft alleine mit der Erziehung der Kinder, da musste sie sich durchsetzen. Ja und dieser Sohn habe sie sogar darum gebeten, bestraft zu werden. Sie wäre diesem Wunsch dann nachgekommen. Als der Holzstab schon etwas älter war, zerbrach er dann bei einer Ihrer Prügelaktionen. Der Sohn musste dann von seinem Taschengeld einen neuen kaufen, dies habe ihm ganz offensichtlich erheblich mehr weh getan, als die Bestrafungen. Cordula lacht und ist amüsiert. Jedenfalls, so meinte sie weiter, sei dieser Sohn von all ihren Kindern der robusteste und es habe ihm nicht geschadet.

Es ist für mich immer wieder ganz erstaunlich, wie empathielos Menschen sein können. Cordula fehlt offensichtlich jedes Unrechtsbewusstsein für ihre Handlungen. Mehr noch: Sie gibt im Jahr 2008 solche Erziehungsratschläge an eine junge Mutter. Es ist ihr nicht peinlich, sie scheint eher stolz darauf zu sein. Die Folgen für den Sohn werden kurz deutlich: Er sei der „robusteste“ von allen, die anderen seien sensibler. Robust bedeutet für sie, der schafft es im Leben. Robust bedeutet für mich in diesem Zusammenhang: Der arme Sohn, sehr wahrscheinlich musste er sich gefühlsmäßig ausschalten, um das alles zu ertragen.


Ich erinnere mich an ein anderes Erlebnis (ist schon ein paar Jahre her), das ich mit einer ehemaligen Kinderpflegerin hatte. Sie bekam mit, dass ich einen Text von Alice Miller las und fragte neugierig nach. Ich berichtete kurz, um was es ging und welche Thesen Miller vertritt. Daraufhin grübelte sie kurz. Dann meinte sie, „weißt Du, das ist nicht immer alles so zu sehen. Ich hatte in einem Kindergarten mal einen Jungen, der war wirklich schwierig. Außerdem hat er sich dauernd in die Hose gemacht. Irgendwann reichte es mir dann. Ich habe ihn geschnappt, bin mit ihm aufs Klo und habe ihn richtig durchgeprügelt. Danach war der nie wieder frech zu mir und hat sich benommen, wirklich vorbildlich. Außerdem habe ich seinen Eltern dann berichtete, dass ich ihn körperlich bestraft habe. Diese hatten damit kein Problem und meinten, dass das schon richtig so wäre.“ Diese Kinderpflegerin war sichtlich stolz auf ihren „Erfolg“. Für sie war es ihre Art mir zu sagen, dass Alice Miller ja wohl nicht immer recht haben könne.

Nachdem sie zu Ende berichtete hatte, fragte ich ohne weiteres Vorwort, wie sie denn ihre eigene Kindheit erlebt hatte und ob sie geschlagen worden war. Ihr stolzes Lächeln blieb in ihrem Gesicht und sie sagte: „Oh ja, wir sind richtig oft verprügelt worden. Wir mussten uns immer in der Reihe aufstellen und unserem Vater den Lederriemen überreichen. Danach konnten wir teilweise gar nicht mehr sitzen. Ach was haben wir Kinder damals Nachts zusammen über unsere Eltern geklagt“, sie lachte.

In beiden Beispielen sieht man, wie abgespalten diese Frauen von ihren Gefühlen sind. Im letzteren hat mich besonders erstaunt, dass die ehemalige Kinderpflegerin auch nach meiner deutlichen Nachfrage nicht den Zusammenhang verstanden hat, auf den ich sie hingewiesen hatte. Nämlich das sie weitergab, was sie selbst erlitten hatte. Sie lächelte einfach. Es war schlimm für mich zu sehen, wie gespalten diese Frau war.

Beide Frauen sind ansonsten vollkommen normal und unauffällig. Sind ökonomisch eher Mittel bis gehobene Mittelschicht. Haben einen breiten Bekannten- und Freundeskreis. Wissen, wie man sich benimmt usw.

Was hat das ganze nun mit dem Thema Krieg in diesem Blog zu tun? Sehr viel, meine ich. Denn diese Frauen sind keine Randgruppe, da bin ich sicher. Es ist erstaunlich wie ver-rückt beide eigentlich sind und wie scheinbar normal sie trotzdem ihr bürgerliches Leben hinbekommen. Warum werden in Kriegszeiten ganz normale Menschen plötzlich zu menschlichen Monstern? Eine Frage, die im Angesicht des Krieges oft gestellt wird. Die Antwort: Viele Menschen sind nur schein-normal, in vielen schlummert mörderische Aggressivität und viele besitzen kein Mitgefühl. Ein Weg, diese Spaltung aufzulösen, ist eine Psychotherapie. Ein anderer, viel wichtigerer ist Prävention in Form von massivem, gut strukturiertem und gut finanzierten Kinderschutz.

Donnerstag, 6. November 2008

„Krieg kann tödlich sein“

Gestern lief auf dem TV-Sender ARTE die Kriegs-Dokumentation „Die Hölle von Verdun“. Eigentlich schaue ich nur noch selten solche Dokus, weil ich meine Lebenszeit auch mit schöneren Bildern ausfüllen kann. Diese Doku hat mich allerdings sehr beeindruckt, weil sie wie kaum eine zweite die Schrecken der Realität Krieg und die Hölle, die die Soldaten erleben, bildlich darstellt. Ganz besonders blieb mir ein sogenannter Zitter-Soldat in Erinnerung. Dieser kriegstraumatisierte Mann bekam den Schrecken, das blanke Entsetzen und das Zittern nicht mehr aus seinem Gesicht. Er war fast die zu fleisch gewordene Menschenfigur von Edvard Munchs Bild „Der Schrei“... Ich persönlich hielt nur die Hälfte der Sendung aus, weil mir der Krieg zu sehr ins Schlafzimmer kroch.

Irgendwie kam dann eine Fantasie dazu. Eigentlich wäre es doch sinnvoll, wenn Soldatenanwärter bevor sie ihre Zeitverträge oder auch ihre Entscheidung, Wehrdienst zu leisten, schriftlich absegnen, solche Dokus vorgeführt bekommen, gesetzlich verordnet in einem Raum mit anderen Anwärtern. Da sich o.g. Doku auf den ersten Weltkrieg bezieht und dieser ja „schon lange her ist“, müsste die Doku noch um eine aktuelle z.B. aus dem Irakkrieg ergänzt werden.

Auf den Soldaten-Verträgen müssten dann - wir nehmen mal an, ich bin jetzt z.B. Gesundheitsminister der BRD und bekomme eine Mehrheit für diese gesetzliche Regelungen – ähnlich wie auf Zigarettenpackungen aus gesundheitlichen Fürsorgepflichten der Bundesregierung heraus und auch auf Grund juristischer Absicherungen Sätze stehen wie: „Krieg lässt Sie altern“, „Das Soldatenleben kann tödlich sein“, Krieg fügt Ihnen und den Menschen in ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu“, „Krieg kann tödlich sein“, „Soldaten sterben früher“. usw.

Zugegeben, diese Idee lässt mich fast schmunzeln. Aber sie ist eigentlich ernst gemeint. Warum sollte so etwas nicht möglich sein? Letztlich soll es ja nur um einen symbolischen Akt gehen, der auch die leise Hoffnung beinhaltet, dass die Verdrängung vor der Realität Soldat bei dem ein oder anderen Anwärter durch solche Regelungen kurz aufbricht und er sich anders entscheidet. Und wahrscheinlich würden sich trotzdem noch genug Soldaten finden.

Sonntag, 2. November 2008

Grundsätzliche Hinweise

Oder: Wie ich nicht verstanden werden möchte

Meine Erfahrung bei diesem Thema ist, dass als erste Reaktion oftmals erst mal abgewehrt wird (teils auch mit sehr emotionalen oder manchmal auch wütenden Reaktionen). Das ist auch verständlich, u.a. deswegen, weil die meisten Menschen Verletzungen in ihrer eigenen Kindheit erfahren mussten. Wenn dann Zusammenhänge zu eigenem späteren Gewaltverhalten aufgezeigt werden, wird das oft in die Richtung gedeutete: "Dann hätte aus mir ja auch ein Gewalttäter werden müssen, dann bin ich mit diesem Hinweis auch gemeint, eine solche Äußerung verletzt mich sehr!" Eine solche Pauschalisierung liegt mir natürlich fern!

Viele Menschen haben auch Angst davor, auf Grund ihrer Kindheitserfahrungen stigmatisiert oder auf diese reduziert zu werden, gerade auch, wenn diese Erfahrungen von erheblicher Gewalt und schwerem Missbrauch geprägt waren. Auch eine Stigmatisierung oder Reduzierung von Menschen liegt mir fern! Wir müssen Menschen immer nach ihrem Verhalten beurteilen.

Eine weitere Angst fiel mir bei Diskussionen auf. Die Angst davor, dass das zerstörerische Verhalten von TäterInnen durch die Analyse ihrer destruktiven Kindheiten entschuldigt oder gar gerechtfertigt würde. Auch dies liegt mir fern. Einem Opfer kann es natürlich herzlich egal sein, was ein Täter als Kind erlitten hat. Ein Richter sollte den einen Täter vor dem Gesetz nicht anders behandeln, als den anderen, nur weil es dem einen „als Kind schlechter erging“. Und ein Therapeut kann zusammen mit einem Täter vielleicht vieles analysieren, was für dessen Heilung auch wichtig ist, wenn es aber zu Rechtfertigungen kommt, muss eine klare Grenze gezogen werden. Niemand hat das Recht, die Würde eines anderen Menschen zu verletzen, Punkt. Und: Als Menschen haben wir immer auch die Wahl und tragen Verantwortung für unser Handeln und unsere Entscheidungen.

Nichts desto Trotz finde ich in den Texten hier deutliche Worte und Zusammenhänge zwischen destruktiven Kindheiten und destruktiven Verhaltensweisen. Ich befinde mich dabei allerdings auch auf der Analyseebene, das bitte ich zu verstehen. Mir geht es dabei insbesondere um die Prävention von Gewalt und um die Schaffung von einem Bewusstsein dafür, wie entscheidend uns alle die Kindheit prägt. Ich persönlich sehe mich dabei eher als Vermittler des Themas. Es gibt (Fach-)Menschen, die wesentlich mehr Ahnung von dem Thema haben und bessere Worte finden, als ich. Mir persönlich hilft dieser Blog, einige Gedanken zu ordnen. Und ich meine, dass gar nicht genug auf dieses Thema hingewiesen werden kann.

Mir wurde schon einmal vorgeworfen, dass aus meinem Grundlagentext nur ein Entweder/Oder, ein hier „die guten nicht-misshandelten“ und dort die „bösen misshandelten Menschen“ hervorgehen würde. Ich sehe die Gefahr, dass eine solch schwarz-weiße Deutung je nach dem, wie der Text individuell verstanden und empfunden wird möglich ist. Allerdings möchte ich auch auf die „Grautöne“ im Text verweisen: Stichworte z.B. „Helfender Zeuge“, unterschiedliche Formen und Auswirkungen der Gewalterfahrungen, Einfluss gesellschaftlicher Prozesse wie sie z.B. der „Hamburger Ansatz“ beschreibt.
Wichtig ist mir hier zu sagen, dass meinem Empfinden nach unsere Welt auch kompliziert, ungerecht, herausfordernd und manches mal auch unglücklich machend bleiben würde, wenn die meisten Menschen als Kind Liebe und Achtung erfahren hätten. Ich behaupte nicht, dass das Leben einfach ist (was es ja auch so spannend macht :-) ) Außerdem sind wir nun mal Menschen, wir machen Fehler. Ich glaube aber in der Tat, dass so etwas enorm destruktives wie Krieg nicht mehr entstehen würde, wenn ein bedeutender Teil der Menschheit liebevoll und ohne Gewalt heranwachsen dürfte. Ich bin dabei im Grunde auch Optimist. Es wird noch so einige Generationen dauern, aber es zeichnet sich im historischen Rückblick ab, dass sich die Kindererziehung von Generation zu Generation verbessert und die Menschen dadurch immer emphatischer werden. Nie zuvor in der Geschichte wurden Kinder zu gut behandelt, hatten Kinder so viele Rechte und wurde Kindern und ihrer Entwicklung so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie heute (trotz aller immer noch erschreckender Zahlen, die vorliegen). Es ist somit nur eine Frage von Zeit. Haltet mich für verrückt: Ich bin mir sicher, dass spätere Generationen mit dem gleichen Erschrecken und Unverständnis in die Geschichte auf Kriege blicken werden, wie wir dies heute in Europa tun, wenn wir uns z.B. mit der mittelalterlichen Hexenverbrennung oder der mittelalterlichen Medizin beschäftigen. Kriege werden für spätere Generationen nicht mal mehr theoretisch vorstellbar sein.

Weitere Gedanken zu möglicher Kritik habe ich mir hier gemacht

Samstag, 1. November 2008

Kindesmisshandlung in Pakistan

Es ist nicht gerade leicht, für Länder wie Pakistan und Entwicklungsgesellschaften allgemein verlässliche Zahlen zu bekommen, wie viele Kinder in diesen Ländern misshandelt werden.

In dem Grundlagentext schrieb ich:
"Außerdem wurde in den 90er Jahren in verschiedenen Untersuchungen festgestellt, dass das Ausmaß der häuslichen Gewalt gegen Frauen in Entwicklungsgesellschaften (Ausmaß: ca. 30 bis 80 %) im Vergleich zu westlichen Ländern (Ausmaß: ca. 20 – 28 %) oftmals erheblich höher ist. Pakistan (Ausmaß: 80 %) und Tansania (Ausmaß: 60%) stehen dabei an der Spitze der Liste. (vgl. Seager (1998) zit. nach amnesty journal, 03/2008, S. 16) Entsprechend erleben in diesen Ländern auch Kinder häufiger Gewalt mit. "

Diese Zeilen habe ich jetzt im Text wie folgt ergänzt:
"Untersuchungen aus den USA zeigen darüber hinaus, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Mütter und Gewalt gegen Kinder besteht. Die Überschneidung von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung beträgt je nach Studiendesign 30 % bis 60 %. Zusätzlich wurde in medizinischen Versorgungseinrichtungen festgestellt, dass 45 % bis 59 % der Mütter von misshandelten Kindern gleichfalls von Gewalt betroffen sind. (vgl. Hellbernd / Brzank,. 2006, S. 93) Wenn man diese Zahlen auch für Entwicklungsgesellschaften zu Grunde legt, ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein sehr hohes Ausmaß an Kindesmisshandlung. Für Pakistan mit 80 % betroffenen Frauen wäre dann z.B. anzunehmen, dass auch die Kindesmisshandlung in diesem Land extrem verbreitet ist."

Für Deutschland gilt, dass 10 bis 15 % der Kinder körperlich misshandelt werden. 25 % aller deutschen Frauen erleben in ihrem Leben Gewalt durch den Partner sprich häusliche Gewalt. Dieses Verhältnis ist natürlich nur sehr grob und steht nicht in direktem Zusammenhang. Zu Bedenken ist, dass von den 25 % zum Zeitpunkt der Gewalterfahrung ca. die Hälfte mit Kindern lebten; dass auch Frauen Kinder misshandeln usw.
Es dürfte trotzdem einleuchten, dass für Pakistan - mit 80 % von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen in den 90er Jahren - sicher auch entsprechend hohe Raten von Kindesmisshandlung zu verzeichnen sind. Es dürfte auf Grund dieser groben Zahlenspiele nicht übertrieben sein, wenn man für Pakistan von ca. 30-40 % misshandelten Kindern ausgeht.

Somit dürfte auch der alltägliche Terror, der Fundamentalismus und die politische Instabilität in diesem Land deutlich mit der weit verbreiteten Gewalt in den pakistanischen Familien zusammenhängen. Wenn diese familiäre Gewalt im Zusammenhang mit den aktuellen Modernisierungsprozessen (und entsprechenden Konklikten) in Pakistan betrachtet wird, lässt sich die politische Gewalt in diesem Land gut ursächlich erklären, wie ich meine. Leider wird erst genannter Zusammenhang oft gar nicht erst in entsprechende Analysen einbezogen.


Montag, 27. Oktober 2008

Inhaltsverzeichnis


(Destruktive) Kindheitserfahrungen im Kontext von Krieg 


(zuletzt aktualisiert am 17.06.2011)

Hinweis: Der Text ist mittlerweile stark veraltet und auch formal nicht perfekt. Da er allerdings der Grund dafür war, diesen Blog zu gründen, lasse ich ihn selbstverständlich online. Siehe für aktuellere Texte den INDEX)


„Glückliche Menschen fangen keine Kriege an.“
(deMause, 2005, S. 109)

Inhaltsverzeichnis


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1. Einleitung: (destruktive) Kindheitserfahrungen im Kontext von Krieg


Das Thema Gewalt gegen Kinder bzw. destruktive Erziehung ist für mich im Kontext von Krieg ein wesentliches. Es wird nach meinem Eindruck in der Kriegsursachenforschung oft unterschätzt und vernachlässigt. Ich möchte dies in einem kleinen Bild festmachen. SoziologInnen, PolitologInnen und HistorikerInnen usw. sind in diesem Bild eifrige Gärtner, die einen verzweifelten Kampf gegen das wuchernde „Unkraut des Kriegsgartens“ austragen. Sie haben erkannt: Wichtige, äußere Umwelteinflüsse beeinflussen das Wuchern des Unkrauts, z.B. die Wetterlage, Klimaveränderungen oder die Quantität und Qualität des Düngers. An diesen Umwelteinflüssen setzen sie an und versuchen gleichzeitig, das Unkraut mit Kraftakten und ggf. Gewalt zu entfernen. Doch im Angesicht des immer weiter wuchernden Unkrauts haben sie glatt die Wurzeln übersehen, die sich ihrem Blick entziehen. An diesen Wurzeln setzen einige PsychoanalytikerInnen und PsychohistorikerInnen mit ihren Thesen an. Ein Zusammenwirken als voneinander lernende „Gärtnergemeinschaft“ könnte sicher einiges umfassender erklären und bewegen.

Zu fragen ist also: Wie ist es möglich, dass Millionen von Menschen dazu motiviert werden können, sich für diverse, egoistische oder auch „gerechte“ Ziele (denen ihrer Machthabern und ggf. eigenen) töten zu lassen und/oder andere Menschen zu töten bzw. dazu zu motivieren? In wie weit bestimmen dabei (destruktive) Kindheitserfahrungen die Entwicklung hin zum Krieg? Die erste Frage legt zunächst nahe, zwischen Machthabern/Regierenden und den Beherrschten/Regierten zu differenzieren. Letztere Gruppe werde ich, um den Einfluss von Kindheit anschaulicher zu machen, in Soldaten und das Volk an sich aufteilen. Danach werde ich noch der Frage nachgehen, ob entgegen der „Männlichkeit des Krieges“ der Frieden weiblich ist. Interessant fand ich zusätzlich die Frage, in wie weit der Krieg Folgen auch für die nachfolgenden Generationen hat
Ich verstehe diese Arbeit in Anbetracht der Komplexität des Themas vor allem als gedankliche Anregung. Vor allem komplexe politisch-sozio-ökonomische Dimensionen des Krieges muss ich aus Platzgründen außen vor lassen. Mir ist auch bewusst, dass auf den ersten Blick die vielen Themen, die ich mir innerhalb dieses Textes vorgenommen habe, zu unterschiedlich erscheinen und das ganze zu verwirren drohen. Ich meine aber, dass hier ein roter Faden zu finden ist und bemühe mich, diesen im Verlauf des Textes darzustellen. Im Sinne des Bildes „Wurzel des Übels“ stelle ich psychoanalytische bzw. psychohistorische Überlegungen zur Kindheit ins Zentrum der Arbeit. Im letzten Abschnitt gebe ich allerdings mit Hinweis auf den „Hamburger Ansatz“ eine Anregung dazu, wie psychohistorische Überlegungen zur Kindheit mit einer Gesellschaftstheorie über die Kriegsursachen verknüpft werden könnten (Denn dieser Text entstand ursprünglich auf Grundlage eines politischen Seminars an der UNI Hamburg ca. 2003, in dem der „Hamburger Ansatz“ vermittelt wurde. Meine damalige Hausarbeit habe ich hier erheblich ausgeweitet). Ausschlaggebend bei der Auswahl der Literatur waren für mich am Anfang meiner Recherchen die Thesen von Arno Gruen und Alice Miller. Entsprechend habe ich versucht, Literatur zu finden, die diese Thesen untermauern. Offensichtlich gibt es nur wenig Literatur, die sich hauptsächlich mit den gesellschaftlich-politischen Auswirkung von Kindheitserfahrungen beschäftigt (Eine Ausnahme ist dabei der Forschungsbereich „Psychohistorie“ insbesondere vertreten durch Lloyd deMause, den ich hier hervorheben möchte. Sein Buch „Das emotionale Leben der Nationen“ ist in meinen Augen ein Muss für alle, die sich mit den tieferen Ursachen von Krieg beschäftigen möchten.). Im Rahmen allgemeiner Untersuchungen über Kriegsursachen werden Kindheitserfahrungen und erzieherische Einflüsse meist gar nicht und wenn doch, dann meist knapp als ein Punkt unter vielen abgehandelt. Zum selben Eindruck kam ich auch bei meiner Internetrecherche. Selbst bei der freien Internetenzyklopädie Wikipedia ist zum Thema Kriegsursachen nicht ein einziges Wort von Kindheitserfahrungen und Psychoanalyse zu lesen (genannt werden nur ökonomische, politische, ideologische, religiöse und kulturelle Kriegsgründe; Stand 19.01.2008 unter http://de.wikipedia.org/wiki/Krieg). Um so wichtiger finde ich es, diesem Thema in dieser Arbeit eine zentrale Bedeutung zukommen zu lassen.



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2. Historische und aktuelle Dimensionen der Gewalt gegen Kinder

Hinweis: Mein gesamter "Grundlagentext" ist mittlerweile veraltet, insofern würde ich heute den Zahlenteil auch etwas anders darstellen. Bitte sonstige Blogbeiträge verfolgen, da ich mich immer wieder mit Zahlen und Studien befasse, alte Texte aber nicht ständig aktualisieren kann!

Die Lebendigkeit und der Eigenwille des Kindes, die Quelle von Aufmüpfigkeit und Autonomie, muss eingedämmt werden, so dachte man großteils im geschichtlichen Verlauf. Es galt die Maxime, die von Schmidt 1887 in der "Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens" exemplarisch formuliert wurde: "Der Wille des Kindes muss gebrochen werden, d.h. es muss lernen, nicht sich selbst, sondern einem anderen zu folgen" (zit. n. Keupp, 1999, S. 6). Diese Maxime durchzieht die Geschichte fast aller menschlicher Gesellschaften. Die Bibel ist ein weiterer exemplarischer Beleg dafür: Wer seine Kinder liebt und vor Torheiten bewahren will, der schlägt und züchtigt sie, ist der „erzieherische“ Leitgedanke vor allem im Alten Testament. (vgl. z.B. Dtn 21,18-21; Spr 3,11; Spr 3,12; Spr 13,24; Spr 29,17; Sir 22,6; Sir 30,12) Zudem galten Kinder lange Zeit als Besitz ihrer Eltern bzw. des Vaters, mit denen nach Belieben umgegangen werden konnte; Kinder waren recht- und schutzlos. "Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen.", schrieb der Psychohistoriker Lloyd deMause (1992) zur Evolution der Kindheit. (deMause, 1992, S. 12) Und: „Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto mehr sinkt das Niveau der Kindererziehung.“ (ebd., 2005, S. 269)

Nachfolgende Zahlen aus der Gegenwart zeigen, wie nachhaltig die „Geschichte der Kindheit“ weiterhin wirkt: In sozialwissenschaftlichen Studien ist belegt, dass die Hälfte bis zwei Drittel aller Eltern ihre Kinder körperlich bestrafen, wobei man davon ausgeht, dass 10 bis 15 % dies häufig und schwerwiegend tun.[1] (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002, S. 220)
Eine bundesdeutsche Repräsentativstudie kommt auf der Opferseite zu ähnlichen Ergebnissen. 74,9 % der Befragten gaben an, in ihrer Kindheit körperliche Gewalterfahrungen seitens ihrer Eltern erlebt zu haben. 38,4 % wurden häufiger als selten körperlich gezüchtigt. Elterliche Misshandlungen erlebten 10,6 %, 4,7 % häufiger als selten. (vgl. Wetzels, 1997. S. 146)
Ein Vergleich zwischen drei repräsentativen Jugendstudien (jeweils 1992, 2002 und 2005) zeigt, dass ca. 30 % (jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 29,6 % und 32 %) der Jugendlichen gewaltfrei erzogen wurden. Die große Mitte sind die „konventionell“ erzogenen, die häufig leichte körperliche Bestrafungen und andere Sanktionen erfahren haben und in deren Erziehung „weitgehend“ auf schwere körperliche Gewalt verzichtet wurde. (Zahlen jeweils in der Reihenfolge der Jahreszahlen: 36,4 %, 51,2 % und 46, 7 %). Eine gewaltbelastete Erziehung (Diese Gruppe weist bei allen Sanktionsarten – inkl. psychischer Gewalt - eine überdurchschnittlich hohe Häufigkeit auf, insbesondere auch schwere Körperstrafen.) erlebten jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 19,3 % und 21,3 %. (vgl. Bundesministerium der Justiz, 2007, S. 18)
(Hinweis: Es gibt neuere rep. Studien zum Sexuellen Missbrauch, die andere Zahlen nahelegen!)
Bei einer weit gefassten Definition kann außerdem auf Grundlage von vor allem europäischen und nordamerikanischen Studien davon ausgegangen werden, dass jedes 3./4. Mädchen und jeder 7./8. Junge mindestens einmal sexuell missbraucht wird (ca. 25% der Übergriffe erfolgen durch Familienangehörige, weitere 50-60% durch Menschen aus dem sozialen Nahbereich). (vgl. Bange, 2002; Gloor / Pfister, 1995; Finkelhor, 1997; Bundesarbeitsgemeinschaft Prävention & Prophylaxe e.V.) DeMause (2005) hat darauf hingewiesen, dass höhere Raten nachgewiesen werden, wenn mit den Befragten ein Vertrauensverhältnis im Rahmen von Interviews, die zwischen einer und acht Stunden gehen, aufgebaut werden kann. Demnach gaben bei entsprechenden amerikanischen Studien zwischen 38% (Studie von Russel) und 45 % (Studie von Wyatt) der befragten Frauen an, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein. (vgl. deMause, 2005, S. 256)
Auch die Kindesvernachlässigung ist laut Einschätzungen von Experten eine weit verbreitete Form von Kindesmisshandlung. Esser (2002) geht davon aus, dass in Deutschland 5 bis 10 % aller Kinder mit klinisch relevanten Folgen durch ihre Eltern abgelehnt oder vernachlässigt werden. Esser beschreibt zudem eine deutsche Risikokinderstudie, in der 384 erstgeborene Kinder von der Geburt bis zum Alter von 11 Jahren begleitet wurden. Bei 15,4 % aller Kinder wurden Ablehnung und/oder Vernachlässigung festgestellt. (vgl. Esser, 2002, S, 103ff) Andere Quellen stellen das Ausmaß der Vernachlässigung wie folgt dar: Als Untergrenze wird geschätzt, das mindestens 50.000 Kinder in Deutschland unter erheblicher Vernachlässigung leiden, nach oben hin schwanken die Zahlen zwischen 250.000 und 500.000 Kindern. (vgl. Deutscher Kinderschutzbund / Institut für soziale Arbeit e.V., 2000)
Die Forschung bzgl. psychischer Misshandlung ist dagegen erst in den Anfängen. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass die psychische Misshandlung die häufigste Form der Kindesmisshandlung ist und zudem oftmals mit anderen Misshandlungsformen einhergeht. (vgl. Brassard / Hardy, 2002, S. 589ff) Auch diese Misshandlungsform hat erhebliche Folgen für die Kinder.
Ein weiteres relativ unbeleuchtetes Feld ist das Miterleben von Gewalt und die möglichen Folgen für die Kinder. Strasser (2001) vermittelt eindrücklich, wie Gewalt gegen Frauen auch als Trauma für die mit den Erwachsenen zusammenlebenden Kinder wirken kann bzw. wie häusliche Gewalt gegen Frauen eine Form von psychischer Gewalt gegen Kinder darstellt.
Eine erste deutsche repräsentative Studie zeigt, dass von 10.000 befragten Frauen jede Vierte im Alter von 16 bis 85 Jahren bereits ein- oder mehrmals körperliche oder zusätzlich sexuelle Übergriffe eines Beziehungspartners erlitten hat. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004a)
Sofern Kinder in den betreffenden Familien leben, werden hier die möglichen Dimensionen der von Kindern miterlebten Gewalt deutlich. Die Arbeit am zusätzlichen Tabuthema „Frauengewalt gegen Männer“ zeigt darüber hinaus, dass auch Frauen an häuslicher Gewalt beteiligt sein können und dies ebenfalls Folgen für die Kinder haben wird. (vgl. ausführlich Kantonale Fachkommission für Gleichstellungsfragen, 2006)
Auch Geschwister, die Gewalt miterleben, müssen in diesen Themenkomplex Beachtung finden. Elterliche Gewaltanwendung gegenüber Kindern ruft nicht nur Schäden bei dem unmittelbar angegriffenen Opfer hervor. Es wird angenommen, dass die nichtangegriffenen Geschwister psychisch in ebensolchem Maße geschädigt werden wie das eigentliche Opfer und so zu mittelbaren Opfern werden. Das Erlebnis von Tätlichkeiten der Eltern gegenüber dem Bruder oder der Schwester verursacht bei ihnen Furcht und vermittelt ein Gefühl der Verwundbarkeit und der mangelnden Geborgenheit. Zusätzlich werden Zusammenhänge zwischen eigenem späteren Gewaltverhalten und dem Miterleben von Gewalt angenommen. (vgl. Schneider, 1998, S. 337)
Ins Blickfeld der Wissenschaft gerät zunehmend auch der Fötus und dessen (psychische) Entwicklung im Mutterlaib. DeMause (2005) weist nach, dass bereits Föten Stress und Gewalt erleben und erinnern, was Auswirkungen auf das spätere Leben haben kann (Er nennt dies „Fötales Drama“). Föten erleben z.B. psychische oder körperliche Gewalt durch den Partner gegen die Mutter, direkte Ablehnung des Fötus, Belastungen durch Alkohol-, Drogen- oder Nikotinkonsum der Mutter, Belastungen durch Stress- und Angstzustände der Mutter usw. (vgl. deMause, 2005, S.56ff)
Ich habe lange nach einer passenden Formulierung für ein weiteres Themenfeld gesucht und diese schließlich (mehr zufällig) in einem Text gefunden, der sich mit den Auswirkungen der NS-Erziehungsideale beschäftigt: „Die Frage scheint mir berechtigt, ob die Enteignung des Kindes schon weit früher, vor der Geburt, sogar vor der Zeugung beginnt und ob dies für das Kind schon in frühem Stadium von Bedeutung sein könnte. Alle Eltern bilden ja aus Erwartungen, Hoffnungen, Fantasien erste Identitätsvorstellungen um das erwartete Kind herum. Sie weben damit gleichsam eine psychische Hülle, in die das Kind dann hineingeboren wird. Diese Hülle ist von der Einstellung der Eltern zum Kind stark geprägt. Bildlich gesprochen braucht das Neugeborene diese Hülle, um eine gesunde Haut bilden zu können.“ (Langendorf, 2006, S. 278ff) Die Erwartungen von Eltern innerhalb des NS-Systems wirkten sich schon früh negativ auf die Kinder aus, so der weitere Ansatz von Langendorf. Dies kann man sicherlich auch weiterstricken. Ich denke z.B. an Eltern, deren Grund fürs Kinderkriegen der ist, dass sie von „ihrem Unglücklichsein“ befreit werden wollen; ich denke an Frauen, die eine Trennung auf sich zukommen sehen und die „schnell noch mal“ ein Kind bekommen, um den Partner doch noch irgendwie zu binden; ich denke an Leihmütter, die das Kind für andere Eltern bekommen; ich denke an die Eltern, die ein zweites und drittes Kind bekommen, weil „es beim ersten irgendwie alles schief gelaufen ist“ usw. usf. Es geht also im Kern um den eigentlichen Grund fürs Kinder kriegen. In diesem Grund findet sich so manches mal schon die erste Demütigung, Missachtung und Funktionalisierung des Kindes.

Zu vermuten ist auch, dass Ausmaß und Härte der Kindesmisshandlung in noch weitgehend traditionelleren, patriarchalen Gesellschaften entsprechend höher und ausgeprägter sein könnte. Entsprechende Gesellschaftsstrukturen stellen laut Gelles (2002) einen Risikofaktor für Gewalt in der Familie dar. (vgl. Gelles, 2002, S. 1060)
In Ägypten sagten beispielsweise bei einer Umfrage 37 % der Kinder, dass sie von ihren Eltern geschlagen oder gefesselt würden. 26 % berichteten über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung aufgrund der Misshandlungen. (vgl. Youssef, Attia & Kamel, 1998 zit. nach WHO, 2002, S. 62) In Äthiopien berichteten 21 % der befragten städtischen Schüler und 64 % der ländlichen Schüler von Blutergüsse oder Prellungen auf Grund körperlicher Bestrafungen durch ihre Eltern. (Ketsela & Kedebe, 1997 zit. nach WHO, 2002, S. 62) Im Iran wurden Schüler im Alter von 11 bis 18 Jahren befragt. 38,5 % berichteten über körperliche Gewalt in ihrer Familie, die leichte bis schwere Verletzungen zur Folge hatte. Im Yemen berichteten fast 90% der Kinder, dass körperliche Bestrafungen und Demütigungen die wesentliche Disziplinierungsform in ihren Familien darstellt. Das selbe Bild ergab eine Untersuchung in Südkorea, dort halten 90 % der Eltern körperliche Bestrafungen ihrer Kinder für notwendig. (vgl. UNICEF, 2006b, S. 52ff)
Eine Studie kommt zu dem Schluss, dass 36,1 % aller kolumbianischen Kinder irgendwann Opfer von Misshandlungen werden. Jedes zehnte Kind, das in ein kolumbianisches Krankenhaus eingeliefert wird, muss wegen häuslicher Gewalt behandelt werden; die Dunkelziffer wird hier vermutlich viel höher liegen, da viele Ärzte sich nicht der Mühe unterziehen, Misshandlungen anzuzeigen. (vgl. BRENNPUNKT LATEINAMERIKA, 2005, S. 39)
Garbarino & Bradshaw (2002) berichten, dass in China Kinder als „Eigentum“ ihrer Eltern angesehen werden, wodurch auch die Wahrscheinlichkeit sinken würde, dass Nachbarn etc. bei einem Verdacht auf Misshandlungen z.B. in Form einer Anzeige eingreifen würden. (vgl. Garbarino & Bradshaw, 2002, S. 901) Bereits die Definition als "Eigentum" stellt meiner Ansicht nach eine erhebliche Demütigung und Missachtung des Kindes dar. Etwas mehr Licht ins chinesische Dunkelfeld bringen folgende Zahlen: 461 von 1000 (ca. 46 %) befragten chinesischen Eltern (in Hong Kong) berichteten, dass sie schwere körperliche Gewalt gegen ihre Kinder angewendet haben. (vgl. WHO, 2002, S. 63) Eine Studie, in der SchülerInnen direkt befragt wurden ergab, dass 22,6 % der chinesischen und 51,3 % der süd-koreanischen Kinder schwere körperliche Gewalt durch ihre Eltern erlebt haben. (ebd.)

DeMause zeichnet ein eindrückliches Bild von der elterlichen Gewalt gegen Kinder in islamisch, fundamentalistischen Familien und Gesellschaften (z.B. Palästina, Pakistan, Afghanistan oder auch Saudi-Arabien) und kommt zu dem Schluss, dass die dort existierenden „Erziehungspraktiken“ jenen sehr ähnlich sind, wie sie einst Kindern im mittelalterlichen Westen routinemäßig zugefügt worden sind. In Form von: Sexuellem Missbrauch, strikter Gehorsamseinforderung, Schlagen, Treten, Schütteln, Schneiden, Vergiften, Unter-Wasser-Halten, Würgen, Beschießen, Stechen, Beißen, Verbrennen, Ermorden usw. (vgl. deMause, 2005, S. 39ff)
Für eine Diplomarbeit – vgl. Bette (2006) - wurden 287 afghanische Schulkinder aus Kabul, Afghanistan befragt. 41,6% der Kinder berichteten, von ihrem Vater geschlagen zu werden und 59,9% berichteten, von ihrer Mutter geschlagen zu werden. Fast ein Drittel aller Kinder berichteten von mehr als fünf Typen häuslicher Gewalterfahrungen. Die Typen häuslicher Gewalterfahrung, die am häufigsten berichtet wurden waren Schläge auf den Körper, die Arme oder die Beine und angeschrien oder beleidigt zu werden.
Besonders Afrika ist leider immer noch weitgehend eine „blackbox“, was die Forschung über die Kindererziehungspraxis und Kindesmisshandlung angeht. Bzgl. Kenia habe ich eine interessante HRW-Studie gefunden, die über das hohe Ausmaß von Gewalt gegen Kinder in Schulen berichtet: „For most Kenyan children, violence is a regular part of the school experience. Teachers use caning, slapping, and whipping to maintain classroom discipline and to punish children for poor academic performance. The infliction of corporal punishment is routine, arbitrary, and often brutal. Bruises and cuts are regular by-products of school punishments, and more severe injuries (broken bones, knocked-out teeth, internal bleeding) are not infrequent. At times, beatings by teachers leave children permanently disfigured, disabled or dead.„ (Human Rights Watch, 1999) Es ist naheliegend, dass eine solche Akzeptanz ja geradezu „Normalität“ von Gewalt an kenianischen Schulen gleichzeitig etwas über die Akzeptanz von elterlicher Gewalt aussagt. In der Studie heißt es dazu weiter. „Various forms of corporal punishment (and other punishments like manual labor) have a long pedigree in Kenya. Many Kenyans told Human Rights Watch that physical chastisement has long been accepted in Kenyan homes.” (ebd.)

In den 90er Jahren wurde in verschiedenen Untersuchungen festgestellt, dass das Ausmaß der häuslichen Gewalt gegen Frauen in Entwicklungsgesellschaften (Ausmaß: ca. 30 bis 80 %) im Vergleich zu westlichen Ländern (Ausmaß: ca. 20 – 28 %) oftmals erheblich höher ist. Pakistan (Ausmaß: 80 %) und Tansania (Ausmaß: 60%) stehen dabei an der Spitze der Liste. (vgl. Seager (1998) zit. nach amnesty journal, 03/2008, S. 16) Entsprechend erleben in diesen Ländern auch Kinder häufiger Gewalt mit.
Untersuchungen aus den USA zeigen darüber hinaus, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Mütter und Gewalt gegen Kinder besteht. Die Überschneidung von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung beträgt je nach Studiendesign 30 % bis 60 %. Zusätzlich wurde in medizinischen Versorgungseinrichtungen festgestellt, dass 45 % bis 59 % der Mütter von misshandelten Kindern gleichfalls von Gewalt betroffen sind. (vgl. Hellbernd / Brzank,. 2006, S. 93) Wenn man diese Zahlen auch für Entwicklungsgesellschaften zu Grunde legt, ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein sehr hohes Ausmaß an Kindesmisshandlung. Für Pakistan mit 80 % betroffenen Frauen wäre dann z.B. anzunehmen, dass auch die Kindesmisshandlung in diesem Land extrem verbreitet ist.
Zusätzlich lässt sich bei diesem Thema auch auf deutsche Untersuchungen bzgl. MigrantInnen zurückgreifen. In einem Sonderteil zeigt eine bereits weiter o.g. Untersuchung, dass in Deutschland lebende türkische Migrantinnen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung deutlich häufiger - nämlich 38 % der Befragten - Gewalt durch Beziehungspartner erfahren haben. Sie hatten außerdem auch mehr Situationen von Gewalt und – gemessen an den Verletzungsfolgen – schwerere und bedrohlichere Formen von Gewalt erlebt als der Bevölkerungsdurchschnitt. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004a) Dass türkisch stämmige Kinder/Jugendliche im Vergleich zu Deutschen häufiger Gewalt zwischen ihren Eltern miterleben, bestätigen auch Pfeiffer & Wetzels (2000), die ca. 16.000 Jugendliche befragt haben. Fast jeder dritte türkische Jugendliche berichtete in den letzten 12.Monaten vor der Befragung Gewalt zwischen den Eltern miterlebt zu haben, gegenüber nur jedem elften Deutschen. Auch elterliche Misshandlungen erlebten türkische Jugendliche signifikant häufiger als Deutsche. (vgl. Pfeiffer & Wetzels, 2000) Dass ethnische Unterschiede im Gewalterleben innerhalb von Familien bestehen, zeigt auch die Untersuchung von Baier & Pfeiffer (2007) bei der ca. 14.300 Jugendliche befragt wurden. Häufiges Erleben von Ohrfeigen, hartes Anpacken, Werfen mit Gegenstand bzw. Erleben von Misshandlung (Verprügeln, mit der Faust schlagen) erlebten türkische (29,8 %), russische (25,4 %), jugoslawische (27,9 %), polnische (27,6 %) und italienische (30,7 %) Jugendliche häufiger als Deutsche (17 %) (Die Deutschen erlebten dagegen häufiger „leichte Züchtigungen“ als die anderen Gruppen). (vgl. Baier & Pfeiffer, 2007)
Dass Deutschland bzw. Europa – trotz erschreckend hoher Gewaltraten gegen Kinder – im internationalen Vergleich kein Maßstab ist, zeigt auch, dass weltweit nur 16 Länder das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert haben (darunter auch Deutschland) - Stand 2006. Bis heute haben 106 Staaten die Prügelstrafe in Schulen nicht ausdrücklich verboten (dazu zählen auch die USA). Weitere Zahlen aus der UNICEF-Studie (2006) sprechen für sich: Schätzungsweise 150 Millionen Mädchen und 73 Millionen Jungen unter 18 Jahren werden zum Geschlechtsverkehr gezwungen oder geschlagen. Zwischen 133 und 275 Millionen Kinder und Jugendliche sind jedes Jahr in ihren Familien Zeugen von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Schätzungsweise 5,7 Millionen Kinder leben allein in Südasien in Schuldknechtschaft usw. usf. (vgl. UNICEF, 2006a)
Oftmals bedingt schon der kulturelle Kontext bzw. „die Tradition“ Gewalt. Ich denke da z.B. an Zwangsheiraten und an die Genitalienverstümmelung. Weltweit sind im Jahr 2008 nach Schätzungen von ExpertInnen 51 Millionen Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren zur Heirat gezwungen worden. In den darauf folgenden 10 Jahren werden pro Tag ca. 25.000 hinzukommen, die meisten davon in Afrika und Asien. Die jüngsten Bräute leben in dem indischen Bundesstaat Rajastahn, dort sind 15 % aller Ehefrauen bei ihrer Hochzeit keine 10 Jahre alt. Im Haushalt der Ehemänner werden Kinderbräute oft ausgebeutet und Opfer von Gewalt. Unzählige werden in der Hochzeitsnacht vergewaltigt. (vgl. EMMA, 07./08. 2008) Wie sollen Mädchen und auch Jungen, die (gewaltvoll) zur Heirat gezwungen werden, liebevolle Eltern werden, wenn schon ihre “Liebe” keine echte ist und von Trauer, Wut und Ohnmacht begleitet ist? Und wie ergeht es Frauen, denen als Kind die Genitalien verstümmelt wurden? Ca. 2 Millionen Mädchen (täglich ca. 6000) werden jedes Jahr weltweit Opfer der Genitalenverstümmelung. (vgl. UNICEF, 1997)
Ebenso werden in vielen Ländern Jungen beschnitten. "Die relativ gesehen geringfügigere aber immer noch schwerwiegende Verstümmelung von Jungen wird nach wie vor größtenteils ignoriert, wie auch die Tatsache, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit unabhängig vom Geschlecht gilt. Darüberhinaus wird auch die Beschneidung von Knaben in Ländern der Dritten Welt etwa in Afrika, Vorderasien und Indonesien oder bei den Aborigines in Australien nicht unter Narkose und mit sterilisierten chirurgischen Instrumenten sondern mit sehr primitivem Werkzeug vorgenommen, was nicht selten zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod führen kann." (www.uni-protokolle.de, "Beschneidung von Jungen und Männern")

(siehe ergänzend zu den Zahlen "Gewalt gegen Kinder in Entwicklungsländern"!)

Die weiteste Verbreitung der Gewalt gegen Kinder und die extremsten Ausformungen finden sich letztendlich bei den Stämmen und Urvölkern. DeMause hat – sowohl historisch als auch relativ aktuell - nachgewiesen, dass in diesen Kulturen sehr hohe Raten von Kindermord (bei den australischen Aborigines wurden früher z.B. bis zu 50 % der Säuglinge getötet; für Neuguinea gilt, dass die Mütter mindestens ein Drittel ihrer Neugeborenen umbringen), Inzest, Körperverstümmelung, Kindervergewaltigung, Folterung und emotionale Verstoßung zu finden sind. Routinemäßig sind dort dissoziative Persönlichkeitsstrukturen die Folge, was die kulturelle Weiterentwicklung hemmt. (vgl. deMause, 2005, S. 184ff)

Die Ergebnisse weiter o.g. Untersuchungen müssen zusätzlich unter einem Gesichtspunkt betrachtet werden, den eine UNICEF- Studie aus dem Jahr 2003 wie folgt darstellt: „So erschreckend die Ergebnisse solcher Befragungen sind, geben sie doch nur die halbe Wahrheit wieder. Denn man muss davon ausgehen, dass viele ehemalige Gewaltopfer nicht über ihre Erfahrungen in der frühen Kindheit sprechen können oder wollen.“ (UNICEF, 2003)
Von den in einer englischen Studie befragten jungen Erwachsenen, die von den Forschern als „schwer misshandelt“ eingestuft wurden, gaben beispielsweise weniger als die Hälfte dies zu. Von denen, die „gelegentlich misshandelt“ wurden, beschrieben sich weniger als 10 % als „misshandelt“, auch wenn alle von Handlungen sprachen, die sie als „niemals gerechtfertigt“ ansahen. Eine Befragung von 10.000 Erwachsenen in den USA (1994) ergab, das 40 % von denen, die als Kinder nach körperlichen Misshandlungen ein oder zwei Mal medizinische behandelt wurden, sich selbst nicht als „misshandelt“ einstuften.(vgl. ebd.) Das Bild, das Befragungen liefern, ist also nicht übertrieben, sondern scheint noch untertrieben.
US-amerikanische Studien zeigen auch, dass kleine Kinder am stärksten von körperlicher Gewalt bedroht sind. Körperliche Strafen gegen Kinder erreichen demnach einen Höhepunkt im Alter von drei Jahren. (vgl. Melzer/Lenz/Bilz, 2010, S. 962) Gerade bewusste Erinnerungen an konkrete Erlebnisse aus den ersten drei Jahren verblassen später allerdings oftmals. Eine irische Mutter, die ihre Kinder misshandelt hatte, formulierte es so: „Du musst sie schlagen, solange sie noch zu klein sind, um sich daran zu erinnern und dir Vorwürfe machen können.“ (deMause, 2005, S. 241)
Zusätzlich beleuchtet dieser Aspekt des Umdeutens, Verdrängens und der fehlenden bewussten Erinnerung der erlittenen Gewalt etwas, das ich im Kapitel „Das einst misshandelte Volk identifiziert sich mit dem Aggressor“ ausführlich darstellen werde.

Mir ist bewusst, dass manche Thesen, die im weiteren Textverlauf folgen werden, bei vielen LeserInnen starke Widerstände und Kritik hervorrufen könnten. An dieser Stelle des Textes möchte ich allerdings einen – wie ich empfinde - nicht übertriebenen Satz festhalten, der auf Grund obiger Datenlage kaum kritisierbar ist. Zu allen Zeiten, gestern, heute und morgen, herrscht auch in Friedenszeiten Krieg: Der Krieg der Erwachsenen gegen die Kinder. Das enorme Ausmaß ja geradezu die Normalität der Gewalt gegen Kinder und deren Vielfältigkeit muss man sich klar vor Augen führen bzw. muss man sich als ersten Schritt überhaupt bewusst machen, um daraus die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen ermessen zu können. (Alleine das Wahrnehmen der enormen Gewalt gegen Kinder braucht bei vielen Menschen meiner persönlichen Erfahrung nach oftmals Jahre bzw. ist mit erheblichen Abwehrhaltungen verbunden. Dies ist insofern verständlich und normal, da die Beschäftigung mit diesem Thema unweigerlich an eigenen verletzenden Erfahrungen rührt) ) Die o.g. UNICEF-Studie beschreibt mögliche Folgen der Gewalt gegen Kinder u.a. wie folgt: „Gewalt zieht Gewalt nach sich: So geraten die betroffenen Kinder als Erwachsene oft in eine Opferrolle oder üben selbst Gewalt gegen andere aus.“ (UNICEF, 2006a, siehe dazu u.a. auch Van der Kolk. / Streeck-Fischer, 2002) Diesem destruktivem Potential möchte ich im Kontext von Krieg und seinen Ursachen weitere Beachtung schenken.


[1] Diese Angaben treffen übrigens auch auf unsere Nachbarn in Österreich zu. (vgl. Buchner et.al., 2002, S. 139ff)


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